Dann waren die Tage allmählich wieder länger geworden, der Schnee war zerflossen; mit donnerartigem Krachen hatte der Fluß seine Eisdecke gesprengt. Im wirbelnden Zug hatten sich die Schollen durch die Berge und die Porta Westfalica hinausgedrängt in das offene Land. Die Kähne und Schiffe waren in ihr Recht zurückgetreten.
Der Komet war emporgestiegen!
Und jetzt wollte es von neuem Frühling werden. Die Waldanemonen, die Schneeglöckchen, die Veilchen und die Leberblümchen lugten aus der Erde oder öffneten bereits ihre Knospen. Alles Lebendige fing an, sich zu regen.
Noch immer war der junge Pfarrgeistliche aus dem katholischen Lande nicht wieder eingekehrt in dem lutherischen Pfarrhaus. Manch liebes Mal hatte freilich sein Auge drüben an den blitzenden Fenstern gehangen, wenn die Abendsonne oder der Mondschein auf ihnen blitzte. Manch liebes Mal war er aufgefahren aus tiefstem Sinnen – aufgefahren, erschrocken ob seinen Gedanken und Träumen. Dann hatte er sich jedesmal verborgen in Dunkelheit und Einsamkeit und gebetet – heiß und inbrünstig gebetet!
Aber ewig und immer waren dieselben Gedanken, dasselbe Bildnis um ihn und in ihm.
Weder durch Gebet noch durch Fasten und Kasteiung konnte er diese Gedanken verscheuchen, dieses Bild auslöschen in seiner Seele. Und zu niemand, niemand durfte er sprechen, keinem Menschen konnte er seine große Not klagen.
Jawohl ist wunderlich der Menschenherzen Lauf!
Und jetzt verklangen die letzten Töne der Waldhörner des Grafen von Pyrmont in der Flußbiegung am Heinser Walde, und der Bruder Festus stand am Ufer im tiefen Schatten wie festgebannt und lauschte. Sein Herz pochte in seiner Brust.
O Frühling und Freiheit, o Fesseln und Bande! O Festus, Festus!
Leise plätscherten und spielten die dunkelleuchtenden Wasser zu den Füßen des Mönches. Er gedachte an seine Jugend, an die hohen Mauern des Klosters, die kalten, kahlen Zellen, die öden Säle und widerhallenden, finsteren Kreuzgänge, er gedachte an einen von den Obern Verurteilten, welchem er einst das schwarze Brod und den Wasserkrug in die vermauerte Zelle zu reichen hatte. Inmitten der Frühlingsnacht fiel es ihm ertötend kalt und eisig aufs Herz: er war der in Ewigkeit Eingeschlossene, und das dunkle Himmelsgewölbe war die Decke des Kerkers, welcher ihn hielt.
So stand er am Ufer, gottverlassen, weltverlassen! Ein Zweifler an sich selbst, ein Zweifler an allem außer ihm.
In weiter, weiter Ferne zitterte der letzte Klang der Hörner aus.
Fünftes Kapitel
Der Leser wird an einen Ort gebracht, wohin ihn ein besserer Erzähler viel früher geführt haben würde.
Nach der Astrologen maßgeblicher Meinung zeigt ein Komet an:
Erstens: Grausame und übermütige Ratschläge, Uneinigkeit, Verräterei und Aufruhr.
Zweitens: Räuberei, Unsicherheit der Straßen und große Angst und Schwermütigkeit unter den Leuten.
Drittens: Großer Reiche und Könige Untergang, Krieg, Pestilenz und böse Krankheiten.
Viertens: Veränderung der Religion, Gesetze und der weltlichen Ordnung, beneben einer unersättlichen Begierde zu allerhand Neuerungen.
Von allen diesen schönen Sachen hatte sich bis jetzt, das heißt Mitte Juni 1556, noch wenig ereignet, und nur eine große Angst, Unruhe und Schwermütigkeit hatte sich, wie wir bereits im Anfange unseres Bilderbuches bemerkt haben, der Menschheit im allgemeinen und der so leichtlich träumerischen, vorsorglichen und nachdenklichen deutschen Nation bemächtigt.
Man erwartete die grausen Dinge, welche die Zukunft bis jetzt noch in ihrem Schoße barg, wie ein Kranker beim Zahnarzt wartet, bis die Reihe an ihn kommt.
Diese große Unruhe aber brachte natürlich mit dem Wunderstern auch das Geschrei in Verbindung, welches sich im Frühling des Jahres 1556 anhub von dem heiligen Born der Grafschaft Pyrmont, einen Büchsenschuß von der Paderbornschen Stadt Lügde gelegen.
Wir haben die erste Nachricht davon erhalten durch das klägliche Notschreiben, welches Fräulein Ursula von Spiegelberg an ihren Herrn Bruder, den jungen Grafen zu Pyrmont, gerichtet hatte und welches denselben so eilig als möglich nach Haus beorderte, der Menschensündflut zu steuern.
Nun war der Komet wieder verschwunden vom Himmelsgewölbe; alle Feuchtigkeit, welche die Erde nur irgend abgeben wollte, hatte das Ungetüm aufgesogen; der heiße, dürre Sommer, welcher die Folge davon war, stand in seiner vollsten Blüte.
Wir führen den Leser ein in das Herz dieser wunderlichen Geschichte, ein in das grüne, von der Emmer durchrauschte Waldtal von Pyrmont, allwo auf dem Heiligen Anger der heilige Born, der Gesundbrunnen, welcher im Jahre 1556 einen ganz andern Anblick bot als heute, sprudelte.
Aber es liegt uns daran, darzutun, daß wir das leichte, buntbemalte und ausgeputzte Gebäude unserer Geschichte nicht auf einem losen Grunde unvorsichtig und leichtsinnig erbaut haben, sondern daß wir uns wohl vorgesehen und alles in Obacht genommen haben, daß unserer Feder nichts entschlüpfe, was nicht zu verantworten, was eitel Gewäsch und Maultum sei.
Gewichtiger Männer Zeugnis können und wollen wir dafür anziehen!
Da ist zuerst der Herr Magister Heinrich Bünting, ein frommer und wohlgelehrter Mann, welcher in seiner: »Newen, vollständigen Braunschweig-und Lüneburgischen Chronika« erzählt:
»Es brach aber im selbigen Jahr – Eintausendfünfhundertsechsundfünfzig – gegen den Frühling ein Geschrei aus von dem heiligen Brunn in der Grafschaft Pyrmont. – Dieser Brunn ist vor vielen Jahren wegen seiner Kräfte nicht unbekannt gewesen, denn Anno 1502 und die folgenden Jahre etliche Male die Wohlgeborene Fraw Margaretha, Geborne von der Lippe, Graf Bernhards Tochter, Graf Johann des Altern zu Rittberg Gemahlin, diesen Ort oftmals besucht und dieses Brunns heilsames Wasser zu ihren Leibesgebrechen ersprießlich gebrauchet.«
»Aber im obgesagten Jahr 1556 ward dieser Brunn in den Ruhm und Ansehen gebracht, daß nicht allein aus den angrenzenden Provincien des deutschen Landes, sondern fast aus der ganzen Christenheit, aus Spanien, Frankreich, Engelland, Schottland, Dännemark, Schweden, Polen und Ungarn, ja, aus Italien selbst, Leute haufenweis dahinkamen, ihrer Krankheit durch Kraft dieses heiligen Brunnens sich zu entledigen. Unter vier Wochen haben sich daselbst über zehentausend Menschen befunden. Die benachbarten Dörfer waren Tag und Nacht mit Kranken beladen, daß schier kein Winkel ledig war. Die etwas Fürnehmes waren, machten sich nach der Stadt Lügde. Die ward dergestalt mit frembden Gästen erfüllet, daß in den Häusern kein Raum mehr übrig war. An Brod, Bier und anderem Proviant mangelt es offtermalen, daß die Armut große Not litte. – Es sammelte sich eine so große Menge, daß das Volk im Holze Lager aufschlug und Fleisch-und Brodscharren errichtete. In Summa, es war gleich einem großen Feldlager.« –
Wir ziehen einen zweiten Gewährsmann aus der Nacht der Vergessenheit hervor, den Brunnendoktor Herrn Johannes Pyrmontanus, welcher also schreibt:
»Anno 1556 ward dieser heilige Brunnen eines großen Ansehens, Würden und Namens – und seine Tugend überaus bekannt und ruchtbar, also daß er unversehens anfing zu unzähligen Krankheiten nützlich und heilsam gebraucht zu werden. Und ging es dieser Ordnung nicht anders zu, als wenn’s lauter Aqua vitae – Fons salutis, ja Christus der lebendige Brunn selbst gewesen, so wirklich in diesem Wasser operiret hätte. In Summa, Menschenzungen, Schreiber und Dichter hätten nicht genugsam seine edle Kraft, Tugend und Operation ausreden, schreiben oder verfassen mögen. Es kamen zu derselben Zeit dahin allerlei Nationen, so bresthaft waren – so dieses Wunder, zum Teil ardore visendi, zum Teil durch verursachte Notdurft