»Aha«, kam es plötzlich aus dem Mund des Mönchs. »Ja, die müsste ich hier irgendwo haben. Habt tausend Dank, mein lieber Bruder Johannes. Gottes Segen mit Euch.« Ohne ein Wort zu sagen, suchte Bruder Jakobus etwas in seinem überfüllten Regal. »Aha«, sagte er wieder, als er einen schmalen Band zwischen den Büchern hervorzog. »Da haben wir sie ja.«
»Ja, was haben wir denn da?«, fragte Till neugierig.
»Die Quelle. Ihr Spruch stammt aus der Benediktusregel.«
»Was für eine Regel?«
»Die Benediktusregel. Kennen Sie nicht den Orden der Benediktiner?«
»Mönche?«, fasste Till sein Wissen kurz und bündig zusammen.
»Mönche, exakt«, bestätigte der gut gelaunte Mönch. »Es gibt ja verschiedene. Ich bin zum Beispiel ein Kapuziner. Dann gibt es da noch die Jesuiten oder auch die Benediktiner und viele andere. Die Benediktiner gehen auf Benedikt von Nursia zurück. Er gründete im Jahr 529 das Kloster bei Montecassino und verfasste dafür die Regula Benedicti, also die Benediktusregel, die auf anderen klösterlichen Regeln basiert. Die Regel verlangt im wesentlichen Gehorsam gegenüber dem Abt, Schweigsamkeit, Beständigkeit und Demut. Ihr Spruch entstammt aus den Vorgaben zur Demut.« Der Mönch hatte eine Seite aufgeschlagen und ließ seinen Finger über das Papier wandern. »Aha«, sagte er wieder. »Hier haben wir es doch schwarz auf weiß. Im siebten Kapitel der Benediktusregel, das Kapitel befasst sich mit der Demut, finden wir Ihren Satz im 24. Absatz. Hier schauen Sie selbst.«
Till nahm die aufgeschlagene Seite zur Hand. »Nehmen wir uns also vor jeder bösen Begierde in Acht; denn der Tod steht an der Schwelle der Lust«, las er noch einmal vor. »Sollen wir den Täter jetzt in einem Benediktiner-Kloster suchen?«, fragte Till zweifelnd.
»Es sieht fast so aus. Aber wie ich bereits erwähnte, Benedikt verfasste seine Regel auf Grundlage bereits vorhandener klösterlicher Regeln. Das war vor vielen hundert Jahren. Es könnte ebenso gut aus einer Regel eines anderen Ordens stammen. Aber die Benediktusregel erlangte eine Sonderstellung und wird bis heute praktiziert. Mehr kann ich Ihnen dazu leider auch nicht sagen.«
»Wo finde ich denn das nächste Benediktiner-Kloster?«
Bruder Jakobus blätterte wieder in seinem Heft. »Nun, in Bayern werden Sie einige finden. Insgesamt gibt es heute noch 34 Männerklöster in Deutschland und etliche mehr im Ausland. Die Benediktinerabteien sind eigenständige Gemeinschaften. Also keine zentral geführte Organisation. Die meisten Klöster sind allerdings in Kongregationen zusammengeschlossen und die sind wiederum in der Benediktinischen Konföderation vereint, der der Abtprimas vorsteht. Vielleicht sollten Sie den mal interviewen.«
»Das werden wir wohl machen. Ich hoffe, da geht das mit der Audienz genauso schnell wie bei Ihnen hier.«
»Das weiß ich nicht, aber wenn Sie dann wieder weitergeleitet werden, sind Sie bald beim Heiligen Vater in Rom. Der Abtprimas sitzt nämlich auch in Rom, er leitet die Primatialabtei Sant‹ Anselmo. Aber wie gesagt, er hat keine zentrale Leitungsfunktion. Vielleicht fangen Sie doch besser erst in Bayern an, ich gebe Ihnen auf alle Fälle eine Liste der deutschen Klöster mit.«
Bruder Jakobus kopierte Till außerdem noch die wesentliche Stelle aus der Benediktusregel und begleitete ihn dann wieder hinaus in die Hektik der Großstadt.
20. Dezember 2007, 16:20 Uhr
In der Neurologie wurden Siebels und Petri von Professor Doktor Blei empfangen. Siebels wurde immer unruhiger. Er wollte endlich einen Blick auf den Mann werfen. Eine Begegnung wollte der Professor aber frühestens in zwei Tagen zulassen, was Siebels gewaltig gegen den Strich ging. Aber er konnte es nicht ändern. Hier waren die Ärzte die Könige.
»Was können Sie denn über ihn berichten?«, fragte Siebels und fügte hinzu, dass er gerne einen Bericht hätte, möglichst frei von neurologischem Fachchinesisch.
Der Professor nickte und begann zu erzählen. »Wir haben mit der Erstdiagnoseerstellung begonnen und werden, soweit möglich, eine differentialdiagnostische Abklärung mittels Anamneseerhebung und neurologischer Untersuchung durchführen. Des Weiteren bedienen wir uns zusatzdiagnostischer Methoden wie EEG, Provokations-EEG, Kernspintomographie und einem funktionellen MRT in Zusammenarbeit mit dem Institut für Neuroradiologie.«
»Aha«, entfuhr es Siebels. »Anscheinend ist der Mann privat versichert.«
Der Professor ging nicht darauf ein und fuhr mit seinen Ausführungen fort. »Der Patient steht unter Dauerbeobachtung. Bis jetzt habe ich nur die Ausführungen von meinem Kollegen Professor Rübsam. Anscheinend hatte der Patient einen Epilepsie-Anfall. Das können wir aber erst nach Abschluss der Erstdiagnoseerstellung bestätigen. Falls sich der Verdacht erhärtet, werden wir im nächsten Schritt eine geeignete Medikation für den Patienten aufstellen und schauen, wie er darauf reagiert. Es wäre natürlich nützlich, wenn wir wüssten, ob er schon in Behandlung war und mit welchen Medikamenten er behandelt wurde. Ich habe Professor Rübsam gefragt, wie der Mann sich bei dem Anfall verhalten hat. Was er schilderte, lässt darauf schließen, dass der Patient häufig von Anfällen heimgesucht wird. Das wundert mich. Das Risiko, an Epilepsie zu erkranken, ist nämlich in den ersten Lebensjahren eines Kindes oder bei älteren Menschen ab dem 60. Lebensjahr am höchsten. Ich schätze den Patienten auf 45 bis 50 Jahre. Es ist also wahrscheinlich, dass er schon als Kleinkind unter der Krankheit litt. Etwa 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung haben Epilepsie. Über 70 Prozent der Patienten bleiben aber bei optimaler medikamentöser Behandlung dauerhaft anfallsfrei. Unser Patient hatte wohl einen Anfall, als er von Doktor Petri heute Morgen aufgefunden wurde und kurz darauf einen weiteren in der Psychiatrie. Das ist ungewöhnlich und ich befürchte, er wurde nie medizinisch versorgt.«
»Welche Ursachen hat Epilepsie?«, wollte Siebels wissen.
»Die Ursachen können vielfältig sein. Epilepsie an sich bedeutet eine andauernde abnorme Erregbarkeit der Hirnnervenzellen. Das heißt, es ist eine chronische Krankheit. Schuld sind im Allgemeinen Veränderungen von Bau und Funktion der Nervenzellen, besonders der Zellwände und ihrer Ionenkanäle, Störungen im Stoffwechsel der Zelle oder in der Verfügbarkeit besonderer Substanzen für die Erregungsübertragung. Für solche Veränderungen oder Störungen gibt es wiederum viele besondere Ursachen. Schädigungen des Gehirngewebes können durch Hirnentzündung oder Hirnblutung auftreten. Sauerstoffmangel während der Geburt kann genauso Ursache sein wie eine Hirnverletzung durch einen Unfall. Bei älteren Menschen ist ein Schlaganfall oft die Ursache. Ebenso können Stoffwechselstörungen des Gehirns oder ein Tumor oder sonst eine Fehlbildung zu einer Epilepsie-Erkrankung führen. Daher ist es wichtig, dass wir eingehende Untersuchungen durchführen und abschließend optimale Medikamente verabreichen, um den Patienten schlussendlich zu therapieren.«
»Verstehe«, sagte Siebels und fragte sich doch nur, wann er den Mann endlich in die Mangel nehmen konnte. »Ihr Kollege aus der Psychiatrie sagte, dass der Mann in diversen Sprachen gesprochen habe. Hat er das hier auch getan?«
»Nein. Er schläft. Sie haben ihn drüben erst ruhiggestellt, bevor sie ihn hergebracht haben. Der epileptische Anfall war nicht das einzige Problem, er hat sich auch den Kopf blutig geschlagen. Und das hat nichts mit Epilepsie zu tun. Ich hoffe, er hat sich dabei nicht noch eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres zugezogen.«
Petri räusperte sich, bevor er sich nun auch zu Wort meldete. »Könnte es sein, dass er sich öfter mal den Schädel gegen die Wand haut und das die Ursache für das Auftreten der Epilepsie ist?«
»Das ist Spekulation, aber nicht auszuschließen. Wie gesagt, Hirnverletzungen sind eine Ursache für die abnorme Erregbarkeit der Hirnnervenzellen, was wiederum Auslöser epileptischer