Siebels überlegte, wie es mit dem großen Unbekannten weitergehen sollte. »Er steht unter Mordverdacht. Ich muss ihn unter ständige Polizeiüberwachung stellen.«
»Ja, das dachte ich mir schon. Ich habe veranlasst, dass er ein Zimmer bekommt, aus dem er nicht ausbüchsen kann. Sie können Ihre Beamten vor dem Zimmer platzieren. Während der Untersuchungen können Ihre Leute auch dabei sein. Aber zwei Polizisten sollten genügen.«
»Ja, viel mehr werde ich auch kaum abstellen können. Ich hoffe, Sie können die notwendigen Untersuchungen schnellstmöglich durchführen. Wann werde ich mich mit dem Mann unterhalten können?«
»Rufen Sie mich doch morgen Mittag an, dann sehen wir weiter. Hier ist meine Karte.«
Siebels nahm die Karte des Professors entgegen und gab ihm im Gegenzug seine. Mit einem mulmigen Gefühl verließ er mit Petri das Krankenhaus.
»Was denken Sie über die ganze Sache?«, fragte Siebels den Gerichtsmediziner.
»Ich bin mir unschlüssig. Die Herkunft des Mannes scheint ein Rätsel zu sein. Wir wissen noch nicht einmal seine Nationalität. Magdalena Liebig litt seit frühester Kindheit an der Krankheit und er anscheinend auch. Die Krankheit scheint das Bindeglied zwischen den beiden zu sein. Finden Sie erst mal heraus, ob er Täter oder Opfer ist.«
»Wahrscheinlich müsste man ihn nur mal fragen. Aber Sie haben ihn ja vor mir in Sicherheit gebracht.«
»Das nagt immer noch an Ihnen«, gab Petri zurück. »Es ging nicht anders. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ihn zur Befragung mit ins Präsidium genommen und er hätte in Ihrem Büro erst einen epileptischen Anfall erlitten und sich anschließend seinen Schädel auf Ihrem Schreibtisch zu Brei geschlagen. Hätten Sie sich dann besser gefühlt?«
»Nein«, musste Siebels zugeben. Die Vorstellung ließ ihm sogar einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen. Auf dem Weg zum Wagen rief er Till an. Der kam nach seinem Gespräch mit Bruder Jakobus gerade aus der Liebfrauenkirche. Man verabredete sich im Präsidium.
7
Sein Blick glitt aus dem Fenster seiner kleinen Zelle. Er schaute nach den Vögeln, aber er sah keine. Einen Moment überlegte er, wie oft er schon jeden einzelnen der 150 Psalmen gesprochen und gesungen hatte. Unzählige Male waren sie ihm schon über die Lippen gekommen. Sie brachten ihn so nah zu Gott. Aber sie brachten ihn nicht nah genug. Wie gern würde er jetzt sein Haupt in Gottes Schoß legen und vergessen, dass er ein Menschenkind war. Doch drängte es ihn, das zu erfahren, was er nicht wissen wollte. Er wollte es wissen und er wollte es nicht wissen. Der Anfang war getan, es gab kein Zurück mehr. Der Abt hatte seinen Segen gegeben. Wenn er erst alles wusste, gab es keinen Weg mehr, das neue Wissen wieder zu verbannen. Kein Kraut war gewachsen, um es vergessen zu machen. Er schlug den braunen Ledereinband auf.
Mein Leben, Wilhelmine Arenz
Am 20. Juli 1940 wurden Litauen, Estland und Lettland zu Sowjetrepubliken, Hitler veranlasste daraufhin die Ausarbeitung eines Operationsplanes für den Angriff auf die Sowjetunion. Der 20. Juli war auch der Geburtstag meiner Kinder. Die Zwillinge hatte ich unter großen Schmerzen zur Welt gebracht. Erst erblickte Karl das Licht der Welt, fünf Minuten später folgte ihm Hermann.
Stolz hielt Fritz seine Söhne in den Armen. Nun hatte er es zum Glück nicht mehr so eilig, zur Wehrmacht zu kommen. Er erzählte mir noch immer von seiner Arbeit als Schlosser und hatte keine Ahnung, dass ich von seinem Arbeitsplatz im Archiv wusste. Die Anfälle waren in letzter Zeit nicht mehr aufgetreten. Jedenfalls nicht in unserer Wohnung. Schwester Hildegard hatte mir heimlich ein Medikament zugesteckt, ein Antiepileptika. Ich mischte es Fritz jeden Morgen in seinen Tee und es schien zu wirken. Der Nachteil an dieser Vorgehensweise war, dass Fritz sich gesund wähnte. Und so betete ich jeden Tag, dass Propofski auch weiterhin seine schützenden Hände über Fritz halten würde. Bei meiner Arbeit als Krankenschwester hatte ich zwei Mal am Rande mitbekommen, wie Patienten mit einer körperlichen Behinderung von der SS abgeholt wurden. Niemand wusste, was mit ihnen geschah. Niemand wollte es wissen. Man stellte der SS keine Fragen. Das Thema der Rasse wurde immer offener angesprochen. Auch Fritz stieß in das Horn seines Führers. Der Deutsche war zu Höherem geboren und er gehörte dazu. Wie sollte ich ihm erklären, dass er nicht dazugehörte? Die Zwillinge waren drei Wochen alt und ich ahnte, dass der Tag sich näherte, an dem ich Fritz die Wahrheit sagen musste.
20. Dezember 2007, 18:05 Uhr
In der Eingangshalle des Präsidiums stand ein großer Weihnachtsbaum. Zuhause hatte Siebels einen kleinen stehen. Zum ersten Mal seit Jahren hatte er sich wieder einen angeschafft. Nachdem seine erste Frau mit seiner Tochter das Weite gesucht hatte, hatte er für sich allein keinen gebraucht. Jetzt wohnte er mit Sabine zusammen und dieser kleine Weihnachtsbaum war ein Symbol von Familienglück. Aber Sabine würde an Heiligabend unter Palmen liegen. Siebels fluchte und brachte in Gedanken Staatsanwalt Jensen um. Er erwürgte ihn unter dem großen Baum im Präsidium. Als der kleine hektische Mann leblos unter dem Baum lag, rieb sich Siebels die Hände. Ein fast perfekter Mord. Die Pförtner in dem Häuschen direkt hinter ihm ließ er in seinem Gedankenspiel kurz einschlafen. Die Videoüberwachung ließ ihn auch kalt. Der Traum wurde jäh beendet, Jensen kam an den Pförtnern in der Lobby vorbeigestürmt. Er lebte und nervte wie eh und je.
»So, Herr Siebels, auf geht’s zur Lagebesprechung.«
»Wo findet die statt?«
»Na, in Ihrem Büro, wo denn sonst?«
Siebels trottete missmutig dem vorauseilenden Staatsanwalt hinterher. Treppe rauf, Gang runter, Tür auf, rein ins Büro. Till saß schon da. Tippte an seinem Bericht.
»Was ist denn das?«, fragte Jensen und hielt ein Blatt Papier hoch, das er auf dem Schreibtisch von Till vorfand.
Till schaute ihn unschuldig an. »Trefferquote vom Schießstand. Hat Herr Schneider persönlich vorbeigebracht.«
Jensen studierte das Papier. »Noch so ein Bericht und Sie tauschen Ihre Dienstwaffe gegen einen Revolver mit Zündplättchen ein«, drohte ihm Jensen.
»Ich weiß, was der Spruch auf der Spiegelwand bedeutet«, wechselte Schneiders Lieblingsschütze das Thema.
»Haben Sie etwa eine Spiegelwand zerschossen?«, fragte Jensen ungläubig.
»Spiegelwand in Villa Liebig. Blut. Latein.«
»Ah so. Na und? Was hat uns der Täter mitgeteilt?«
Till las seine neue Erkenntnis direkt von seinem Bericht ab, den er gerade verfasste. »Nehmen wir uns also vor jeder bösen Begierde in Acht; denn der Tod steht an der Schwelle der Lust.«
»Aus der Bibel?«, fragte Siebels.
»Nein. Aus der Benediktusregel.« Till klärte Siebels und Jensen über sein Gespräch mit Bruder Jakobus auf.
»Ich habe noch etwas«, ging Siebels darauf ein. »O-C-S-O.«
»Auch Latein?«, erkundigte sich Jensen vorsichtig.
»Keine Ahnung. Die Buchstaben hat unser nackter Mann auf dem Oberarm tätowiert. Vielleicht weiß Bruder Jakobus da auch etwas zu berichten?«
»Ich kümmere mich drum«, versprach Till.
Siebels ging zum Flip Chart, das neuerdings im Büro stand. Dort schrieb er mit schwarzem Filzschreiber die Namen der Leute auf, mit denen noch zu sprechen war. Als Überschrift wählte er den Namen des Opfers. Magdalena Liebig. Darunter notierte er weitere Namen und deren Beziehung zum Fall.
•Dr. Rübsam, Psychologie
•Dr. Blei, Neurologie
•Dr. Breuer, Hausarzt, Mitglieder Epilepsie-Selbsthilfegruppe?