Die böse Begierde. Stefan Bouxsein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Bouxsein
Издательство: Bookwire
Серия: Mordkommission Frankfurt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783939362081
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Haus im Auge behalten. Die Polizei war schnell da. Erst ein Wagen, dann kam noch einer. Dann kamen viele. Alle mit Sirene und Blaulicht. Es war wie in einem Film. So unwirklich. Verstehen Sie das?«

      »Ja, das verstehe ich sehr gut. Seit wann sind Herr und Frau Liebig außer Haus?«

      »Seit zehn Tagen. Herr Liebig hat einen geschäftlichen Termin in den USA. Anschließend wollte er mit seiner Frau über Weihnachten und Sylvester seinen Urlaub dort verbringen. Die beiden machen ja selten Urlaub. Immer sind sie für die Firma da. Außerdem wollten sie Magdalena nicht über einen längeren Zeitraum alleine lassen. Manchmal sind sie mit Magdalena verreist. Aber immer nur für ein paar Tage, meistens an die Ostsee. Das Klima dort tat Magdalena gut. Ihren Eltern natürlich auch.«

      »Erzählen Sie mir bitte etwas mehr über die Familie. Über die Familie Liebig und die Familie Arenz. Wer gehört alles dazu? Wer hat welche Aufgaben im Unternehmen?«

      Till hatte sich zu den Streifenbeamten vor der Villa gesellt und noch einen heißen Tee ohne Rum mit ihnen getrunken. Nach einer kurzen Unterhaltung betrachtete er sich wieder den Zettel, auf dem er die Worte vom Spiegel notiert hatte. Kurz entschlossen rief er seine Freundin Johanna an. Johanna hatte ihr Medizinstudium vor einigen Wochen beendet. Ihr musste er jetzt sowieso schonend beibringen, dass der geplante Trip in die Sonne auf unbestimmte Zeit verschoben werden musste. Da konnte er sie gleich nach ihren lateinischen Kenntnissen fragen. Er hielt sein Handy einige Minuten reglos in der Hand, bevor er ihre Nummer wählte. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Nachdem er und Johanna in der Vergangenheit einige Krisen durchlebt hatten und die Beziehung eigentlich schon gescheitert war, hatten die beiden sich nach einer kurzen Trennung doch noch einmal zusammengerauft. Seit einem halben Jahr waren sie wieder ein Herz und eine Seele und Till spielte mit dem Gedanken, seiner Johanna an Weihnachten auf einer sonnigen Insel einen romantischen Heiratsantrag zu machen. Immerhin war sie angehende Ärztin und er könnte auch bald befördert werden. Jedenfalls wenn Schneider vom Schießstand bald in den vorzeitigen Ruhestand ging und seine Beurteilungen dort wieder besser wurden. Auf keinen Fall würde er aufhören, Jagd auf Oma bin Laden zu machen. So viel stand für ihn fest. Das war eine Frage der Ehre. Er rief Johanna an und kam ohne Umwege auf den Spiegelspruch zu sprechen. Mühsam las er ihr die Worte auf seinem Notizblock vor. Johanna hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Till erzählte von Dr. Petri, nach dessen Meinung es etwas Religiöses sein müsste.

      »Etwas Religiöses?«, fragte Johanna zweifelnd nach. »Und warum fragst du dann mich?«

      »Ich dachte, du hast Abitur und kannst Latein. Mediziner müssen doch Latein können. So wie Polizisten die Verkehrsregeln kennen müssen.«

      »Wie du bereits richtig erkannt hast, bin ich Medizinerin. Bauchspeicheldrüse kann ich vielleicht auf Latein, aber dein kavendum Dingsbums ist weder eine Drüse noch ein Knochen noch sonst was Medizinisches. Probiere es mal in der katholischen Kirche, da spricht man auch Latein.«

      »Danke für den Tipp. Urlaub wird übrigens ausfallen müssen. Jedenfalls für dieses Jahr. Aber den holen wir so schnell wie möglich nach. Versprochen.«

      »Dein Versprechen in Jensens Ohr. Wenn ich den Job im Krankenhaus bekomme, wird das so schnell nix. Würde es dich stören, wenn ich jetzt ohne dich fliege?«

      »Wie jetzt? Wieso ohne mich?«

      »Mit einer Freundin. Ihr Mann kann auch nicht. Frauenurlaub.«

      »Du willst mich über Weihnachten alleine hierlassen? Bei der Kälte?«

      »Exakt. Du musst doch wieder einen Mörder jagen und hast sowieso keine Zeit. Wahrscheinlich bist du mit Steffen die ganzen Feiertage auf Achse. Oder etwa nicht?«

      »Na ja. Schaut leider nicht gut aus. Tote in Villa. Reiche Leute, heikler Fall.«

      »Also buche ich den nächsten Flug. Das wird jetzt eh schon schwierig genug, noch etwas Erschwingliches zu bekommen.«

      »Na gut. Du hast es dir verdient. Erzähle mir heute Abend, was du gebucht hast. Wahrscheinlich wird es spät. Bye.«

      »Ich mache Spaghetti, wenn du kommst. Ciao.«

      Heiratsantrag ade, dachte Till und hatte im gleichen Moment eine Idee, die ihn gedanklich wieder voll auf den Fall Liebig zurückkatapultierte. Er tippte die Nummer der Auskunft in sein Handy und ließ sich mit der katholischen Telefonseelsorge in Frankfurt verbinden. Kurz darauf sprach er mit einer Frau, die ihn nach seinem Problem fragte.

      »Cavendum ergo ideo malum desiderium quia mors secus introitum delectationis posita est«, las er stockend von seinem Zettel ab.

      »Do you speak German?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.

      »Yes. Only German. This is my problem.«

      »Why is this your problem?«

      »Weil ich kein Latein kann. Ich dachte, Sie sind die katholische Kirche und können mir helfen.«

      »Ich bin Frau Lehmann. Bitte blockieren Sie nicht die Leitung, wenn Sie keine Hilfe benötigen. Andere Menschen haben wirklich Probleme und hoffen auf ein offenes Ohr. Gerade jetzt um die Weihnachtszeit.«

      Till sprach daraufhin Klartext, stellte sich als Kriminaloberkommissar Krüger vor und fragte, wo er mit seinem lateinischen Text vorstellig werden könnte.

      »Da gehen Sie am besten in die Innenstadt, in die Liebfrauenkirche. Dort fragen Sie nach Bruder Jakobus. Er ist dort im Kapuzinerkloster tätig. Er kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.«

      Till bedankte sich und ging zurück in die Villa. Er war mittlerweile bis auf die Knochen durchgefroren und bemitleidete die Polizisten, die untätig herumstanden. Anscheinend wurden sie nicht mehr benötigt, bekamen aber auch keinen Befehl zum Abmarsch. Vielleicht befürchtete Jensen noch einen Presseauflauf, der abgewehrt werden musste.

      4

      Nach Tagen der Einsamkeit verspürte er das Verlangen nach Gemeinschaft. Er suchte die Nähe zu Gott in seinen Brüdern. Der Abt hatte das Zeichen schon gegeben, die Brüder versammelten sich und er schloss sich ihnen an, so wie er es seit Jahrzehnten Tag für Tag hielt. Bruder Johannes empfing ihn mit einem wohlwollenden Lächeln auf den Lippen. Er reihte sich ein. Stand wieder dort, wo sein Platz war. Die Brüder stimmten die Feierlichkeiten an. Die Vigil, die erste Gebetszeit des Tages, hatte begonnen. Die Brüder ließen ihre Stimmen ertönen und priesen den Herrn mit einem Lied Davids, dem dritten Psalm.

      »Herr, ich kann sie nicht mehr zählen, so viele sind es, die sich gegen mich stellen, so viele, die schadenfroh von mir sagen: Dem hilft auch Gott nicht mehr! …«

      Eine Träne lief ihm die Wange herunter, während seine Stimme im Chor der Mönche den Schutz Gottes herbeiflehte. Der Gottesdienst nahm seinen Verlauf, die Brüder sangen »Ehre sei dem Vater« und fuhren fort mit Psalm 94 mit Antiphon. Weiter mit einem Hymnus des Ambrosius, dann sechs Psalmen mit Antiphonen, anschließend der Versikel. Dann sprach der Abt den Segen und alle Brüder setzten sich auf die Bänke. Der erste Bruder unter ihnen erhob sich zur Lesung. Der Abt hatte zuvor das Buch aufgeschlagen. Danach folgte die zweite Lesung, dieses Mal durch Bruder Johannes. Danach die dritte und letzte Lesung. Zwischen den Lesungen sangen die Brüder drei Responsorien. Nach den Lesungen folgten sechs weitere Psalme, die mit »Halleluja« gesungen wurden. Jetzt war er an der Reihe. Er war eins mit sich und den Brüdern und den altehrwürdigen Mauern, die ihn umgaben. Auswendig trug er seine Lesung aus den Apostelbriefen vor. Der Gottesdienst endete mit dem Bittgebet der Litanei.

      Nach dem Gottesdienst nahm der Abt ihn beiseite. Wie er selbst hatte dieser fast sein ganzes Leben in den Mauern des Klosters verbracht, war ohne Eltern unter der Obhut Gottes aufgewachsen. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, sprach der Abt zu ihm. »Du weißt, mein lieber Bruder, man soll der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar auf gute Gespräche verzichten. Es steht geschrieben, dass vollkommenen Jüngern das Reden nur selten erlaubt sei, wegen der Bedeutung der Schweigsamkeit. Doch sind wir weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Darum bitte ich dich, komm zu mir, wenn deine Seele nach einem aufbauenden Gespräch verlangt. Du warst noch ein Säugling, als du zu den