Till näherte sich behutsam der Schwester und fragte leise nach Bruder Jakobus.
»Bruder Jakobus befindet sich im Turmzimmer. Er führt ein seelsorgerisches Gespräch«, flüsterte die Schwester.
Till zeigte seinen Ausweis, der ihn als Beamten der Kriminalpolizei auswies. »Wird es lange dauern?«, fragte er. »Ich benötige eine Auskunft.«
»Warten Sie einen Moment. Ich sehe, was sich machen lässt.«
Fünf Minuten später kam sie mit einem vielsagenden Lächeln zurück. »Kommen Sie. Bruder Jakobus hat sein Gespräch gerade beendet. Er hat jetzt ein paar Minuten Zeit.«
Till folgte der Ordensschwester durch die Kirche. Die Schwestern hier entstammten dem Orden der Franziskanerinnen, die Brüder allerdings waren Kapuziner.
6
In der heilenden Kraft des Kräutertees erkannte er Gottes Nähe nun intensiver denn je. Voller Dankbarkeit brachte er dem Herrn ein Gebet entgegen. Er betete ehrfürchtig das große Dankgebet von David, den 103. Psalm.
Ich will dem Herrn von ganzem Herzen danken,
den heiligen Gott mit meinem Lied besingen!
Ich will den Herrn mit allen Kräften preisen
und niemals seine Freundlichkeit vergessen!
Er hat mir meine ganze Schuld vergeben,
von aller Krankheit hat er mich geheilt,
dem Grabe hat er mich entrissen
und mich mit Güte und Erbarmen überschüttet.
Durch seine Gaben sorgt er für mein Leben
und schenkt mir neue, jugendliche Kraft,
gleich einem Adler schwinge ich mich auf.
Er betete auch die restlichen Verse des Psalms und wiederholte sein Gebet drei Mal. Dann endlich fühlte er sich in der Lage, den braunen Ledereinband wieder zur Hand zu nehmen.
Mein Leben, Wilhelmine Arenz
Heimlich hatte ich mich in die Fabrik geschlichen. Fritz durfte von meinem Besuch bei Propofski nichts erfahren. Ich musste mich durchfragen, war erst beim Pförtner, dann bei der Materialbeschaffung und landete schließlich im Büro des Produktionsleiters. Propofski war älter, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig. Er war gut einen Kopf kleiner als ich, dafür von beachtlicher Leibesfülle. Er rauchte eine Zigarre und als ich ihm erzählte, wer ich war, führte er mich in einen anderen Raum. Propofski war froh, dass ich gekommen war. Bevor ich ihm mein Anliegen vortragen konnte, kam er schon darauf zu sprechen. Fritz hatte diese Anfälle auch schon in der Fabrik gehabt. Nicht oft, vielleicht zwei oder drei Mal. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich von Propofski, dass Fritz gar nicht mehr mit der Wartung der Maschinen betraut war. Das schrieb er nur an die SS, um Fritz vor ihnen zu schützen. In Wirklichkeit arbeitete Fritz seit geraumer Zeit im Archiv. Dort war er allein, dort wurde er aber auch beim besten Willen nicht wirklich gebraucht. Propofski erzählte mir von seinem Bruder Helmut, der schon als Kind unter epileptischen Anfällen gelitten habe. Propofski wusste einiges über die Krankheit zu erzählen, weil sein Bruder schon früh im Krankenhaus behandelt worden war. Epilepsie, so berichtete er mir, sei die häufigste chronische Krankheit des zentralen Nervensystems. Man schätzte, dass etwa fünf Prozent der Bevölkerung an epileptischen Anfällen litten. Die meisten Patienten wurden nur vorübergehend von solchen Anfällen heimgesucht. Dann verriet Propofski mir mit Tränen in den Augen, was mir auch schon Schwester Hildegard anvertraut hatte. Nur war es noch schlimmer, was ich aus seinem Mund vernahm. Die SS hatte seinen Bruder vor einigen Monaten im Krankenhaus abgeholt, als er wegen eines Anfalls in Behandlung war. Seitdem hatte er nichts mehr von ihm gehört. Er hatte nachgefragt und Briefe geschrieben. Niemand gab ihm Antwort. Bis er vor einigen Wochen über mehrere Ecken mitgeteilt bekam, dass sein Bruder nicht mehr leben würde. Klassifiziert als Untermensch, nicht lebenswürdig, den Rassengesetzen nicht genügend, hatte man ihn als medizinisches Versuchskaninchen missbraucht und anschließend entsorgt. Propofski flehte mich an, Fritz vor diesem Schicksal zu schützen. Auf keinen Fall durfte er der Wehrmacht beitreten. Ich fragte ihn, wie ich das verhindern könne. Propofski sah mich traurig an. Solange er in der Lage war, es zu verhindern, sollte ich nur dafür sorgen, dass Fritz von sich aus keine Dummheiten machte, bedrängte er mich.
Es war meine erste und letzte Begegnung mit Propofski. Noch heute verspüre ich eine tiefe Dankbarkeit, wenn ich an ihn denke. Ich wünschte, mir wären in meinem Leben mehr Menschen von seinem Schlag begegnet.
20. Dezember 2007, 16:00 Uhr
Bruder Jakobus empfing Till in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Raum. Nur zwei Holzstühle und ein kleiner Tisch standen dort. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Lächelnd begrüßte er Till und nahm mit beiden Händen dessen Rechte, um sie ausgiebig zu schütteln.
»Junger Mann, was kann ich für Sie tun?«
Till kramte seinen Zettel aus der Hosentasche und las ohne Umschweife vor, was er sich darauf notiert hatte. »Cavendum ergo ideo malum desiderium quia mors secus introitum delectationis posita est.«
Bruder Jakobus schaute ihn amüsiert an. »Das klingt nach Latein. An Ihrer Aussprache müssen Sie aber dringend noch arbeiten. Möchten Sie den Beruf wechseln, junger Mann?«
Till schaute ihn irritiert an.
»Nun, auch der liebe Gott benötigt dringend Beamte in seinem Staat. Sprachkenntnisse in Latein sind schon mal ein guter Anfang für eine höhere Laufbahn.«
»Bevor ich auch nur zwei Sätze unfallfrei auf Latein dahersagen könnte, wäre ich schon drei Mal am Zölibat gescheitert«, gab Till dem lustigen Mönch zu bedenken. Der klopfte ihm lachend auf die Schulter.
»Na, dann zeigen Sie mal Ihren Zettel her.« Melodisch summend überflog Bruder Jakobus die Wörter. »Hm, ich bin auch ein wenig aus der Übung. Kommen Sie mal mit in mein Büro.«
Das Büro des Bruders war ebenfalls sehr klein, aber vollgestopft mit Büchern und Akten. Es gab nur einen Platz am Schreibtisch, an dem der Mönch sich niederließ. Till blieb im Türrahmen stehen und beobachtete den über seinem Zettel brütenden Mönch. Nach einigem Grübeln nahm er Bleistift und Papier und fing an, drauflos zu kritzeln.
»Nein, so macht es keinen Sinn«, stammelte er, stand auf und fischte ein Buch aus dem Regal. Er schlug es auf, notierte etwas, schlug eine andere Seite auf, notierte wieder etwas und wiederholte diesen Vorgang, bevor er wieder zu kritzeln anfing. »Ja, so macht es Sinn«, verkündete er nach einigen Minuten freudig.
»Und, was sagt es uns?«, fragte Till ungeduldig.
»Dass das Zölibat gar nicht so schlecht ist«, entgegnete der Mönch.
»Das steht auf dem Zettel?«
»Na ja, sinngemäß. Wortwörtlich heißt es wie folgt: Nehmen wir uns also vor jeder bösen Begierde in Acht; denn der Tod steht an der Schwelle der Lust.«
»Böse Begierde ... der Tod steht an der Schwelle der Lust«, murmelte Till gedankenverloren und hatte das Bild der erstochenen Magdalena Liebig im Kopf. »Eine Frau wurde ermordet«, erklärte Till dem Bruder. »Sie wurde erstochen, man hat sie nackt auf dem Bett gefunden. Können Sie mir etwas mehr zu dieser bösen Begierde sagen? Gibt es eine Quelle für diesen Spruch? Etwas, das uns mehr über das Motiv des Täters verraten könnte?«
Der Mönch