3
Er saß in seiner Zelle und betrachtete sich den braunen Ledereinband. Vorsichtig berührte seine Hand das Leder und strich sanft darüber. Er konnte sich diesem Buch nicht entziehen. War es Teufelswerk, das er so zärtlich streichelte? Er verwarf den Gedanken und öffnete den Band.
Mein Leben, Wilhelmine Arenz
Seit Dezember 1939 war ich als Aushilfsschwester im Krankenhaus tätig. Oberschwester Hildegard hatte sich meiner angenommen und mich dazu ermutigt, die Ausbildung zur Krankenschwester anzutreten. Ich stimmte zu.
Im Januar 1940 erlebte ich das erste Mal, wie Fritz von einem Krampfanfall heimgesucht wurde. Am Tag zuvor war er schriftlich bis auf Weiteres vom Einsatz bei der Wehrmacht befreit worden. Man hatte ihn auf eine Liste gesetzt und wieder zurück in die Fabrik geschickt. Die Fabrik war jetzt wichtig für den Führer und Fritz war wichtig für die Fabrik. Fritz war Schlosser und hielt die Maschinen in Gang. Mit den Maschinen wurden früher Blechdosen hergestellt, seit Dezember 1939 produzierte die Fabrik allerdings nur noch Munition für die Truppen. Die Maschinen liefen Tag und Nacht. Wenn eine Maschine ausfiel, musste Fritz sie reparieren. Der Bedarf war enorm. Fritz erzählte mir manchmal, wie viel sie an einem Tag fabrizierten, und ich fragte mich im Stillen, wo diese ganzen Patronen verschossen werden sollten.
An jenem Januartag kam Fritz erst spät abends von der Fabrik nach Hause. Er ging erst ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Ich wartete in der Küche mit der fertigen Kartoffelsuppe auf ihn und da er nicht kam, rief ich nach ihm. Als er nicht antwortete, schaute ich nach. Mein Schrecken war groß, als ich ihn auf dem Bett entdeckte. Er lag auf dem Rücken, die Augen starr an die Decke gerichtet. Seine Arme und Beine zuckten schnell und unkontrolliert. Ich sprach ihn an, flehte ihn an, fragte ihn, was er habe. Er nahm mich nicht zur Kenntnis. Lag da und zuckte wild. Etwa zwei Minuten lang ging das so, dann beruhigten sich seine Beine und Arme langsam wieder. Bis er ganz ruhig im Bett lag. Seine Augen bewegten sich wieder. Er drehte seinen Kopf zu mir und sah mich an. Ich fragte ihn, was sei. Nichts, gab er mir zur Antwort. Ich solle mir keine Gedanken machen. Er blieb noch einen Moment liegen, dann kam er und aß seine Suppe. Erst viel später habe ich erfahren, dass der Vorgesetzte von Fritz, Eduard Propofski, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um Fritz vom Dienst bei der Wehrmacht fernzuhalten.
20. Dezember 2007, 12:45 Uhr
Während Till vor die Tür ging, um frische Luft zu schnappen und sich zu überlegen, wie er die lateinische Botschaft am schnellsten übersetzt bekam, setzten sich Siebels und Petri in einem der Gästezimmer der Villa mit der Haushälterin Frau Bromowitsch zusammen. Sie schien sich vom ersten Schock etwas erholt zu haben, es war wieder Farbe in ihr blasses Gesicht zurückgekehrt.
»Geht es Ihnen wieder etwas besser?«, erkundigte Siebels sich rücksichtsvoll. Erneut antwortete sie nur mit einem stummen Nicken.
»Wie lange arbeiten Sie schon für die Familie Liebig?«, erkundigte sich Siebels.
»Seit über vierzig Jahren.«
»Das ist eine lange Zeit. Was genau sind Ihre Aufgaben? Sind Sie jeden Tag hier?«
»Von Montag bis Samstag, ja. Sonntags habe ich frei. Ich mache viel. Kümmere mich um den Haushalt. Ich putze, sauge, wasche und kaufe ein.«
»Der Mann, den Sie heute Morgen im Zimmer gesehen haben, kennen Sie den?«
»Nein. Den habe ich noch nie gesehen.«
»Wohnte Magdalena Liebig hier bei ihren Eltern im Haus?«
Frau Bromowitsch nickte wieder stumm zur Bestätigung.
»Wie alt war sie?«
»Magdalena war fünfundvierzig Jahre alt.« Frau Bromowitsch fing leise an zu schluchzen.
»Hat sie immer hier gewohnt? Ist sie ledig?«
»Ja, sie ist ledig und sie hat immer hier bei ihren Eltern gewohnt.«
»Hatte sie einen Freund?«
»Nein, keinen Freund. Sie war krank. Deswegen wohnte sie auch noch in ihrem Elternhaus. Hier fühlte sie sich sicherer. Nicht so einsam. Ihre Eltern sind zwar selten zu Hause, aber wenigstens in den Nächten war Magdalena unter ihrer Obhut. Am Tag war ich da und Dr. Breuer kam auch regelmäßig und schaute nach ihr. Dr. Breuer ist der Hausarzt der Familie.«
»Was für eine Krankheit hatte Magdalena?«
Wieder schluchzte Frau Bromowitsch und Petri reichte ihr ein Taschentuch. Sie schniefte in das Tuch, schaute dann mit Tränen in den Augen zu Siebels. »Magdalena litt unter epileptischen Anfällen. Früher war es ziemlich schlimm. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Sie bekam neue Medikamente. Aber trotzdem wurde sie immer wieder von schlimmen Anfällen heimgesucht.«
Siebels schaute verwundert zu Petri. Laut Petri hatte der unbekannte nackte Mann epileptische Anfälle gehabt, als die Polizei eintraf.
»Hatte Magdalena Kontakt zu anderen Menschen, die unter der gleichen Krankheit litten?«
Wieder ging der Antwort ein stummes Kopfnicken voraus. »Ja, Magdalena besuchte seit Jahren eine Selbsthilfegruppe. Einmal im Monat ging sie dorthin. Das tat ihr gut. Dort konnte sie über ihre Probleme sprechen. Nicht nur über die Krankheit.«
»Könnte der nackte Mann aus dieser Gruppe stammen?«
Jetzt schaute sie Siebels stumm an, ohne dabei zu nicken. Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern. »Es wäre möglich. Ich habe im Laufe der Jahre einige ihrer Freunde aus dieser Gruppe kennen gelernt. Aber diesen Mann nicht. Ich kann es aber nicht ausschließen.«
»Es gab keine Einbruchsspuren im Haus. Wir gehen zunächst davon aus, dass Magdalena den Mann kannte und hereingelassen hat. Spricht Ihrer Meinung nach etwas dagegen?«
»Magdalena war ängstlich und scheu. Sie hätte keine fremden Männer ins Haus gelassen. Wenn er nicht gewaltsam eingedrungen ist, muss Magdalena ihn gekannt haben. Vielleicht gehört er wirklich zur Gruppe. Das fragen Sie am besten Dr. Breuer.«
»Ja, das werden wir tun. Sie haben sicherlich seine Telefonnummer und Adresse?«
»Ja, natürlich.«
»Erzählen Sie mir aber zuerst bitte ganz genau, wie das heute Morgen war, als sie hergekommen sind.«
»Ich kam kurz vor neun. Alles war normal. Ich habe erst geläutet. Drei Mal kurz hintereinander. Das mache ich immer so, wenn Magdalena allein im Haus ist. Sie weiß dann, dass ich es bin. Ich warte immer noch einen Moment und schließe dann mit meinem Schlüssel auf. Nachdem ich heute aufgeschlossen hatte, habe ich meinen Mantel an die Garderobe gehängt und laut guten Morgen gerufen. Normalerweise kommt dann von irgendwoher im Haus eine fröhliche Antwort. Heute Morgen blieb es aber still. Ich dachte, sie wäre vielleicht im Bad. Aber dann sah ich die Kleidungsstücke von ihr herumliegen. Sie ist eigentlich sehr ordentlich. Das machte mich stutzig. Ich rief wieder nach ihr. Es kam keine Antwort. Erst dann entdeckte ich die roten Flecken. Ich sah mich genauer um. Ich hatte keine Zweifel daran, dass es Blutspuren waren. Ich schaute erst in das Zimmer von Magdalena. Aber das war leer und das Bett unbenutzt. Dann ging ich nach oben. Ich machte Licht im Flur und sah dann deutlich die Blutspuren aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Tür war zu. Ich öffnete sie. Zuerst sah ich Magdalena auf dem Bett liegen. Ich schrie. Dann erst entdeckte ich diesen nackten Mann. Zuerst sah ich ihn im Spiegel. Oben auf dem Spiegel standen diese Wörter und unter diesen Wörtern sah ich das Spiegelbild des Mannes. Er saß neben dem Bett an die Wand gelehnt. Ich schrie wieder. Er saß mit weit aufgerissenen Augen da und starrte auf den Spiegelschrank. Ich glaube, er starrte auf das, was da geschrieben stand. Dann bin ich runter gerannt. Fast wäre ich die Treppen herabgestürzt. Ich hatte Angst, dass der Mann mir hinterherrennt. Aber er blieb im Zimmer. Ich wählte