Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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Aber Gisbertine hat eine Bitte an Sie, und ich habe sie mit ihr.«

      »Auch Sie, Vetter Aschen?«

      »Ja, und ich will sofort offen und ehrlich sein; das bringt mich bei einem ehrlichen Manne, wie Sie sind, am weitesten. Sie haben in der Zeitung von dem aus Köpenick entflohenen Demagogen Mahlberg gelesen.«

      »Und auch«, sagte der General, »dass er wahrscheinlich schwer verwundet und also schon wieder in den Händen der Justiz sein wird.«

      »Hm, so ist es nicht. Verwundet ist nicht er, sondern — lieber Vetter Steinau, stand in der Zeitung, wer der mutige Befreier des Gefangenen war?«

      »Mutig, Vetter Aschen? Sprechen wir das Wort nicht bei Verbrechen aus.«

      »Stand der Name da?«

      »Nein.«

      »So hören Sie ihn von mir. Es war die eigene Frau des Gefangenen. Und was den Mut betrifft, so hören Sie weiter Folgendes. Die schwache Frau hat das Unternehmen ausgeführt mit Hilfe eines neunzehn- oder zwanzigjährigen Burschen, der eine Art Bedienter bei ihr ist. Mit ihm allein hat sie die weite Reise aus dem Westfalenlande nach Köpenick gemacht. Mit ihm bestieg sie den Nachen, in welchem der Gefangene aus dem Köpenicker Schlossgarten über die Spree gebracht werden sollte. Mit ihm fuhr sie in der finstern Mitternacht über den Fluss. Und als nun hinter den Entflohenen Schüsse fielen und der Freund Mahlbergs von einer Kugel getroffen niederstürzte und Mahlberg ihn nicht verlassen wollte, da sprang die Frau aus dem Kahn, mitten zwischen die Kugeln, und zog ihren Mann in den Kahn, und als die Kugeln hinter demselben herflogen, hatte sie keinen andern Gedanken, als mit ihrem Körper den unglücklichen Gatten zu decken, der wieder nur an den verlassenen Freund dachte. So wurde die Frau verwundet, Vetter Steinau. Darf man da nicht von Mut sprechen?«

      Der General antwortete nicht.

      »Antworten Sie mir, Steinau!« rief der Domherr. »Wie nennen Sie, wie müssen Sie die Tat der Frau nennen? Sprechen Sie das Wort aus!«

      »Es war eine mutige Tat«, sagte der General.

      »Also war die Frau eine mutige Frau. Und dieser Frau gilt meine Bitte. Sie ist nicht gefangen. Mit demselben Mut, mit derselben Aufopferung, womit die Frau ihn befreite, hat der Mann die schwer Verwundete fortgeschafft, unter unsäglichen Gefahren, über hundert Meilen weit. Fortwährend waren die Verfolger hinter ihnen, Gendarmen, Polizei, Gerichte, in Preußen, außerhalb Preußen. Zur Verfolgung der Demagogen reichen sämtliche deutsche Regierungen sich die Hände. Heute kann die arme Frau nicht weiter. Sie liegt in dem schwersten Wundfieber; die verwundete Schulter ist im höchsten Grade entzündet; jede Bewegung verursacht ihr unerträgliche Schmerzen; eine weitere Flucht ist unmöglich. Die Frau muss Ruhe und einen Arzt haben. Und, Vetter Steinau, Sie sollen ihr das verschaffen.«

      Der alte General war doch überrascht.

      »Ich?« rief er.

      »Nur Sie können es. Eine Frau, die der General Steinau unter seinen Schutz nimmt, wagt niemand anzurühren.«

      »Aber, Vetter Aschen, ich soll teilnehmen an einem Hochverrate!«

      »Überlegen wir die Sache, Vetter Steinau.«

      »Da ist nichts zu überlegen.«

      Der Domherr nahm keine Notiz von dem Einwurf.

      »Die Flüchtlinge«, fuhr er fort, »sind ein paar Meilen von hier, in der Nähe der preußischen Grenze. Sie sind noch dort verborgen. Sie fahren mit mir hin oder ich mit Ihnen. Sie nehmen die Verwundete in Ihren Wagen; wir andern folgen in dem meinigen. So fahren wir über die Grenze, nach Preußen. An der Grenze werden die Wagen angehalten. ‘Wer da?’ — ‘General von Steinau mit Familie’ —«

      »Herr!« rief der General. »Sind sie des Teufels?«

      »Überlegen wir weiter, Vetter Steinau. Wer in Preußen kennt nicht den alten, tapferen Schlachtengeneral? Wer wird es wagen, ihn anzuhalten, ihm nur in den Wagen sehen zu wollen? So kommen wir über die Grenze zu dem nächsten Städtchen, Beverungen heißt es. In die Zimmer des Generals von Steinau dringt noch weniger jemand als in seinen Wagen, zumal wenn er eine schwerkranke Anverwandte mitgebracht hat. Die Frau ist gerettet.«

      Der Domherr schwieg.

      Auch der General. Er überlegte mit sich.

      »Aber nicht durch mich«, sagte er dann; vielmehr er wollte es sagen. Er konnte die Worte nicht aussprechen.

      Gisbertinens Augen hingen an seinem Munde, ihre Augen voll Tränen, voll neuer Tränen.

      »Onkel!« rief sie.

      Der General fuhr fast zusammen.

      »Onkel, war die Frau mutig?«

      »Ich sagte es ja schon, Gisbertine.«

      »War sie edel? Hat sie gehandelt, wie eine brave Frau handeln muss?«

      »Ich will es nicht leugnen. Aber —«

      »Aber sie ist die Frau des Demagogen, willst Du sagen? Onkel, wenn ich nun diese Frau wäre? Würdest Du auch mich sterben lassen?«

      »Aber, Gisbertine, Du bist —«

      »Hundertmal, tausendmal schlechter als jene Frau. Und weißt Du, Onkel, was ich tue, wenn Du nicht willst? Ich beschütze die Frau mit meinem Leben, wie sie mit dem ihrigen ihren Mann beschützt hat.«

      »Aber, Gisbertine«, sagte der Domherr, »Dein Onkel hat ja schon ja gesagt. Er ist ja mit allem einverstanden. Siehst Du denn nicht?«

      »Ja, ja, ich sehe es. O wie bin ich Dir dankbar, lieber Onkel Steinau.«

      Und sie nahm die Hand des Generals und küsste sie zärtlich, und ihre Tränen fielen darauf.

      Ja hatte der General noch nicht gesagt. Aber nein konnte er nicht mehr sagen. Solch ein alter und tapferer General ist ein wunderlich Ding in den Händen einer schönen und eigensinnigen Nichte und eines klugen Domherrn, der die Welt und die Menschen kennt.

      »Fahren wir auf der Stelle«, sagte der Domherr. »Wer schnell gibt, gibt doppelt.«

      Der General widersprach auch da nicht.

      Aber ein anderes hatte er noch.

      »Aber eins, Vetter Aschen«, sagte er. »Der Mann, der Hochverräter, der Demagog ist noch bei der Frau?«

      »Er ist noch da. Konnte er sie verlassen?«

      »Er muss fort. Eine Frau zu beschützen, eine kranke, sterbende Frau, da komme jemand und werfe einen Stein auf mich. Aber den Mann, den Verbrecher selbst — er muss fort, Vetter Aschen!«

      »Bestehen Sie darauf, Vetter—Steinau?«

      »Ohne Widerrede. Meine Ehre fordert es.«

      Der Domherr sah Gisbertine mit seinem feinen Lächeln an.

      Sie wurde rot.

      »Er soll fort«, sagte er zum General.

      »Und nun gehen wir.«

      Sie kehrten zum Könige von England zurück, um von da sofort abzureisen.

      Unterwegs sagte der Domherr leise zu Gisbertinen:

      »Und Gisbert? Soll auch er noch fort?«

      »Onkel Florens«, antwortete sie, »ich habe es einmal gesagt, und es muss dabei bleiben, sollte es mir auch das Herz brechen.«

      Sie sprach es mit so sonderbarer Stimme. Sie war so bleich geworden.

      Den Domherrn fasste es ängstlich.

      »He, Gisbertine, bricht Dir das Herz?«

      »Gott wolle es verhüten! O nur dieses eine Mal noch!«

      Ihre bebenden Lippen konnten kaum die Worte hervorpressen.

      Der Domherr sah sie verwundert, ahnend an.

      »Und