Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      Der General konnte ohne Krücken und ohne Stock gehen und hinkte nur leicht.

      Er folgte dem jungen Paare in den Gasthof.

      Sie folgten alle drei dem Oberkellner, der den Neuangekommenen ihre Zimmer anwies.

      An der Tür verabschiedete sich der Graf.

      »Wann darf ich wieder aufwarten?«

      »In einer halben Stunde werde ich mit meiner Toilette fertig sein«, sagte Dame Gisbertine. »Der Abend ist so schön. Wir machen dann eine Promenade, um die Sonne untergehen zu sehen.«

      Sie musste die Straße hinaufsehen nach dem Tore hin. Es war die Weender Straße. Dort nach dem Tore hin hatte sie als schwarze Maske gewohnt, hatte die Wohnung ihres Mannes ihr gegenüber gelegen, hatte sie den von ihr Verlassenen wieder aufgesucht, dem schwer Verwundeten in der drohenden Todesgefahr das Leben gerettet, den Kranken mit treuester, hingebendster Gattenliebe gepflegt, den gelockerten, beinahe zerrissenen Bund der Herzen mit ihm erneuert, unter den süßesten, den heiligsten Schwüren, um ihn nach kurzer Zeit in Trotz und Laune und Eigensinn von neuem zu zerreißen.

      Das sind Erinnerungen, die auf das leichtsinnigste, die selbst auf ein verdorbenes Herz ihre Macht mit erschütternder Gewalt ausüben müssen.

      Die Kammerfrau war eingetreten, um ihr bei der Toilette behilflich zu sein.

      Sie achtete nicht auf sie.

      Der General hatte in dem Nebenzimmer sich schon umgekleidet; er kam daraus zurück.

      »Du wolltest doch Deine Toilette machen, Gisbertine!«

      »Sogleich, Onkel.«

      Sie sah von dem Fenster, aus ihren Träumen nicht auf.

      Es wurde an die Tür geklopft.

      Der Graf Westernitz war es.

      »Sagen Sie ihm, ich sei noch nicht fertig. In einer halben Stunde!« befahl sie der Kammerfrau.

      »Aber in einer halben Stunde ist es stockfinster, Gisbertine«, sagte der Onkel.

      »So, Onkel?«

      Sie rührte sich nicht.

      Der General kannte seine Nichte. Er ließ sich von seinem Bedienten die neuesten Zeitungen herausholen, setzte sich in das Sofa und las.

      Gisbertine träumte weiter.

      Der General war beim Lesen aufmerksamer geworden.

      »Hm, Gisbertine, die Zensur ist ein gutes Institut, besonders in der jetzigen Zeit der demagogischen Umtriebe, da man das unwissende Volk auf alle Weise zu verführen sucht. Eins ist aber doch unangenehm, dass man in den preußischen Zeitungen nichts aus dem eigenen Lande liest. Da muss ich in einer fremden Zeitung eine Nachricht finden, die gerade für uns Preußen von der größten Wichtigkeit ist.«

      Gisbertine schien nur halb oder gar nicht zugehört zu haben.

      »Sie wird auch Dich interessieren, Gisbertine«, fuhr der General fort.

      Gisbertine sah halb auf.

      »Du erinnerst Dich doch noch eines gewissen Mahlberg, der zusammen mit Gisbert arretiert war?«

      »Was ist es mit ihm, Onkel?«

      »Er ist aus Köpenick entkommen.«

      »Das freut mich, Onkel.«

      Der General fuhr doch etwas auf.

      »Wie kann Dich das freuen? Er soll gerade der gefährlichste unter allen diesen Verschwörern, Umstürzlern und Königsmördern sein.«

      »Onkel Steinau«, sagte Gisbertine, »er hat genau nichts mehr und nichts weniger als Gisbert getan.«

      »Nun, nun, Gisbert mag Gott und Dir danken, dass er so davongekommen ist.«

      Gisbertine hatte bisher zerstreut, kaum mit halber Teilnahme gesprochen; sie wurde lebhaft.

      »Und Gisbert, Onkel Steinau, ist genau ebenso unschuldig wie ich oder, wenn Du auch mich zu einer Königsmörderin machen willst, wie Du, Onkel.«

      »Aber, Gisbertine!«

      »Lies mir die Nachricht vor, Onkel, oder erzähle sie mir.«

      Mit Gisbertinen mochten auch ihre beiden Oheime nicht verbinden.

      »Ich werde Dir vorlesen«, sagte der General.

      Er las vor:

      »Berlin, 9. Juli. In der vorgestrigen Nacht waren aus dem Schlosse unserer kleinen Nachbarstadt Köpenick, das bekanntlich wegen Überfüllung der Gefängnisse in Berlin zur Mitaufnahme der zahlreichen Gefangenen in den Demagogenuntersuchungen eingerichtet ist, zwei der gefährlichsten Demagogen entwichen. Ein von ihnen bestochener Gefangenenwärter war ihnen zur Flucht behilflich gewesen. Ein anderer treuer Gefangenenwärter hatte aber kurze Zeit vorher Verdacht geschöpft und Anzeige gemacht. Es waren daher insgeheim Vorsichtsmaßregeln getroffen, die Flucht zu vereiteln. Gleichwohl war es den Verbrechern gelungen, schon ans dem Hause zu entkommen. Sie hatten mit dem verräterischen Wärter die Flucht in den Schlossgarten genommen, der an das Ufer der Spree stößt. An dem Ufer warteten andere Helfershelfer mit einem Kahne auf sie. Bevor jedoch die Flüchtlinge den Nachen erreichten, waren sie verfolgt und eingeholt. Der verräterische Gefangenenwärter wurde ergriffen. Auf die beiden Gefangenen, die unterdes wieder einen Vorsprung erhielten, musste, da sie auf wiederholten Anruf nicht stehen wollten, Feuer gegeben werden. Einer von ihnen ward getroffen und fiel, gerade in dem Augenblicke, da er in den Nachen steigen wollte. Dem zweiten gelang es, in diesen zu entkommen; aber wahrscheinlich hat auch ihn sein Schicksal ereilt. Ein Fahrzeug, mit dem man ihm hätte nachsetzen können, war nicht zur Hand. So blieb denn nur übrig, dem Nachen eine Salve nachzuschicken, und diese muss nicht vergeblich gewesen sein. Denn als man nach etwa anderthalb Stunden endlich an das gegenseitige Ufer gelangte, fand man dort sowohl in dem Nachen als im Grase starke Blutspuren, und es ist wahrscheinlich, dass der entflohene Verbrecher der Getroffene war. Näheres hat man zurzeit noch nicht ermitteln können; vielleicht auch beobachten die Behörden Stillschweigen darüber, um desto sicherer mit ihren Maßregeln der Verfolgung vorgehen zu können. Es ist nur gewiss, dass der Entflohene noch nicht wieder ergriffen ist und dass er seinen Weg nach dem Westen hin genommen hat. Der Entflohene heißt Mahlberg; der Name des Getroffenen, der, übrigens nicht lebensgefährlich, an der Hüfte verwundet worden, Franz Horst.«

      »Der arme Franz Horst!« seufzte Gisbertine.

      »Du kennst auch ihn, Gisbertine?«

      »O, er ist einer der bravsten, der liebenswürdigsten Menschen.«

      »Diese Hoch- und Landesverräter sind Dir wohl alle brave und liebenswürdige Menschen!«

      »Wenn ich sie alle kennen würde, wahrscheinlich.«

      Der General schwieg wieder.

      Gisbertine schien in ihre volle streitsüchtige Laune geraten zu sein.

      »Willst Du Dich nicht jetzt ankleiden?« fragte der General sie. »Der Graf wird gleich kommen.«

      Er erhielt auch da Widerspruch.

      »Nein!« war die kurze Antwort.

      Damit sah Dame Gisbertine wieder zum Fenster hinaus.

      Aber draußen auf der Straße fing es schon an zu dunkeln, und in das Zimmer brachte der Kellner Licht.

      In dem Halbdunkel der Straße hatte Gisbertine dennoch etwas gesehen.

      Sie sprang vom Fenster auf.

      »Auch hierher?« rief sie.

      »Was ist da, .Gisbertine?« fragte der General.

      »Nichts!«

      Sie ging mit heftigem Schritt in ihr Zimmer nebenan.

      Ihre Kammerfrau wartete hier auf sie.

      »Ankleiden!«