Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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Uslar brachten wir die Verwundete. Von da eilte ich hierher, mit meiner Bitte, und nun zu dieser.

      Die Frau kann nicht weiter. Es wäre ihr Tod. Zu ihrer Genesung bedarf sie der vollen Ruhe. Volle Ruhe kann sie nur finden unter dem Schutze Deines Onkels Steinau. Er kann sie nur in Preußen beschützen. Jeder Gendarm, jeder noch so hochgestellte Polizeibeamte weicht zurück, wenn der General Steinau sich ihm entgegenstellt und ihm sagt: Dieser Eingang ist verboten.«

      Der Domherr schwieg.

      »Und das soll mein Onkel Steinau?« rief Gisbertine.

      »Und Du und ich wollen ihn darum bitten.«

      Gisbertine sann einen Augenblick nach.

      »Du denkst Dir die Sache so«, sagte sie dann. »Der Onkel Steinau und ich fahren mit Dir nach Uslar zurück?«

      »So ist es.«

      »Wir brächten dann gemeinschaftlich die Verwundete über die preußische Grenze?«

      Der Domherr nickte.

      »Und Mahlberg? Wo bliebe er? Würde er sein Ehrenwort nicht für noch nicht eingelöst halten, also gleichfalls von der Partie sein wollen?«

      »Es wird wohl so sein.«

      »Nach Preußen gingen wir dann sämtlich als General von Steinau und Familie?«

      Der Domherr nickte wieder.

      »Hm, Onkel Florens, dass die arme Verwundete und selbst ihr Mann alsdann vor jeder polizeilichen und andern Verfolgung sicher wären, das glaube ich auch.«

      »Und es ist ja das einzige Mittel, Gisbertine, das Leben der armen Frau zu retten.«

      »Aber noch eine Frage, Onkel Florens. Willst Du offenes Spiel gegen den Onkel Steinau? Soll er wissen, dass er Demagogen unter seinen Schutz nimmt, mit seinem Namen, seinem Range, seiner Stellung, seiner Ehre deckt?«

      »Sind wir ihm nicht gerade aus allen diesen Gründen die vollste Offenheit schuldig, Gisbertine?«

      »Hm, Onkel Florens, weißt Du, was ihm ein Demagoge ist? Ein Hochverräter, Landesverräter, Königsmörder, ja Mörder der ganzen preußischen Armee. Das sind dem General Steinau unsere Demagogen.«

      »Und Du, Gisbertine, bist seine Nichte.«

      »Die ihm befiehlt, willst Du sagen?«

      »Und der er schon einen dieser Demagogen freigegeben hat.«

      »Gisbert war mein Mann.«

      »Und hier handelt es sich um ein Menschenleben.«

      »Noch eine andere Frage, Onkel Florens. Die Frau sollte ihren Mann retten; es war Dein Plan, um die Ehegatten wieder zu vereinigen. Es war eine kleine Komödie, die jetzt freilich ein schlimmes Trauerspiel zu werden droht. Zu der Frau hast Du heute Gisbert geschickt. Ich soll zu ihr folgen. Willst Du auch mit uns beiden eine Komödie aufführen, die gleichfalls in ein Trauerspiel umschlagen könnte?«

      »Ich habe nicht daran gedacht«, sagte der Domherr.

      »Auch mit keinem Hintergedanken, Onkel Florens?«

      »Bei Gott nicht!«

      »So wird Gisbert uns verlassen, in der Minute, da wir in Uslar ankommen?«

      »Du willigst also ein, Gisbertine?«

      »Zuerst eine Antwort auf meine Frage.«

      »Gisbertine, Du willst die Erhaltung eines Menschenlebens an Deinen Eigensinn knüpfen?«

      »Antworte mir, Onkel Florens!«

      »Gisbert soll uns verlassen.«

      Gisbertine hemmte ihren Schritt. Sie musste es.

      »Lassen wir die beiden vorausgehen«, sagte sie mit zitternder Stimme.

      Sie waren in der Göttinger Stadtallee. Die Allee bog sich vor ihnen. Der General und der. Graf hatten nicht bemerkt, dass der Domherr und Gisbertine zurückgeblieben waren.

      Gisbertine brach plötzlich in einen Strom von Tränen aus. Sie musste das weinende Gesicht an die Brust des Onkels Florens legen.

      »Gisbertine, was ist Dir?« sagte der Domherr.

      »O, Onkel Florens«, schluchzte sie, »zu welch einem verworfenen Geschöpf machen mich mein Eigensinn, mein Trotz! Ja, ja, Du hast es mir so oft prophezeit! Ich wäre zur Mörderin an der unglücklichen Frau, an ihrem braven, edlen Gatten geworden, hättest Du das Wort nicht gesagt, wärst Du nicht auf meine Bedingung eingegangen. Ich sah meine ganze Verworfenheit, ich sah mich in ihr. Und dennoch konnte ich nicht anders. O welch ein elendes, welch ein entsetzlich elendes Wesen ist der Mensch!«

      »Ja, Du bist unglücklich, Gisbertine«, sagte der Domherr.

      »Ich werde wahnsinnig!« schrie sie auf.

      »Weine Dich aus, Kind«, sagte der Onkel.

      Er umfing sie sanft.

      Sie weinte noch lange an seiner Brust, lange und still.

      Auch der Domherr sprach kein Wort.

      Der General und der Graf Westernitz kehrten zurück.

      »Wo bleiben Sie denn mit Gisbertinen Vetter Aschen?«

      »Gisbertine weint sich aus, Vetter Steinau.«

      »Gisbertine weint?«

      »Wir sprachen von vergangenen Zeiten, von der Aschenburg, von den grauen westfälischen Heiden. Das ergriff sie.«

      »Die westfälischen grauen Heiden?«

      »Die vor allem, Vetter Steinau. Sie entfalten einen wunderbaren Zauber in ihrer schauerlichen Stille, die nur durch das Geschrei des Kiebitz unterbrochen wird, und der Kiebitz ist ein höhnischer Vogel; er führt die Leute zum Galgen, in den alten westfälischen Heiden nämlich. Da steht noch mancher alte Galgen mit zerbrochenem Rade daneben. Dahin weiß einen der Kiebitz zu verlocken, und wenn man nahe kommt, dann fliegen von dem alten morschen Holze die Raben auf. Der Rabe, Vetter Steinau, wird seine hundert bis anderthalbhundert Jahre alt, und da gibt es denn noch manchen Burschen, der vor den hundert oder anderthalbhundert Jahren schon an dem Galgen sich seine Nahrung holte, und er konnte das lange, denn noch vor zwanzig Jahren war das Geschäft des Hängens in der Welt ehrlich im Gange.

      So kam er denn in die Gewohnheit, und die Gewohnheit führt ihn noch jetzt hin, und wenn der Kiebitz ihm dann die Leute zuführt, dann fliegt er mit seinem heiseren Geschrei: Futter! Futter! Futter für den Galgen und mich! auf. Und im Grunde, Vetter Steinau, hat der alte Rabe Recht. Wir sind alle sündige Menschen und ohne die göttliche Gnade. — Brechen wir ab.«

      »Der Herr Domherr lieben in sonderbaren Bildern zu reden«, sagte der Graf Westernitz.

      »Bilder nennen Sie das, Herr Graf? Ich habe nur die nackte Wirklichkeit geschildert, wie sie jedes Kind bei uns kennt. Darum wagt sich auch kein Dieb in die Heide und keiner, dem sein Gewissen etwas zu sagen hat. Und wenn ein Mädchen die Untreue ihres Geliebten fürchtet, so droht sie ihm mit dem Kiebitz, der ihn zu den Galgen locken, und mit dem heiseren Raben, der ihm zurufen werde: Galgenfutter, Rabenfutter! Und wer gar mit bösen Absichten zu einem Mädchen käme — aber, Vetter Steinau, ich hätte beinahe vergessen, dass Gisbertine etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen hat.«

      »Was ist es?« fragte der General.

      »Darf ich um die Ehre Ihrer Begleitung bitten, Herr Graf?« sagte der Domherr zu dem Grafen Westernitz.

      Aber der Graf war hier überflüssig.

      »Ich habe nachher die Ehre«, sagte er. »Ich besinne mich gerade, dass ich noch für meine Reise etwas zu besorgen habe.«

      Er empfahl sich.

      »Vetter Aschen«, sagte der General, »Sie haben eine verzweifelt ungenierte Weise, die Leute vor die Tür zu setzen.«