Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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zu dem Domherrn.

      »Es ist nicht notwendig«, erwiderte ihr der Domherr. »Wir können aufbrechen, sobald der Arzt kommt. Er wird im Augenblick kommen.«

      Dann hatte Gisbertine eine Frage.

      »Hast Du meinen Auftrag an Gisbert ausgerichtet?«

      »Nein.«

      »Aber ich sehe ihn nicht hier.«

      »Er erklärte mir, dass er Dich nicht sehen wolle.«

      »Ehe Du ihm von mir gesprochen hattest?«

      »Ehe ich ihm von Dir gesprochen hatte.«

      Gisbertine erblasste, wurde rot, biss die Lippen zusammen.

      »Ah! Und er wusste, dass ich kam?«

      »Er wusste es.«

      Der Arzt kam.

      Er hatte versprochen, die Kranke nach Preußen zu begleiten.

      Die Kranke wurde in den Wagen getragen. Der Domherr und der Arzt setzten sich zu ihr.

      Der Domherr hatte vorher Gisbertine zu dem Wagen des Generals zurückgeführt.

      Sie hatte keine Frage mehr an ihn gehabt.

      Die Wagen fuhren ab.

      Es war gegen Morgen, als sie die Grenze erreichten.

      Nach Preußen wie nach Russland konnte man zu jener Zeit nur durch doppelte Zolllinien gelangen.

      An dem Zollhause wurden die beiden Wagen von einer Schar von Zollbeamten umringt.

      »Haben Sie versteuerbare Sachen bei sich?«

      »Reiseeffekten, weiter nichts«, sagte der Domherr.

      »Wir müssen visitieren.«

      Das hieß aussteigen und dann Koffer und Kisten und Kästen aufschließen, damit jene das, was sich darin fand, Stück für Stück an- und durchsehen konnten.

      Da blickte der General aus seinem Wagen.

      Die Zollbeamten waren lauter »zwölf Jahre gediente« Unteroffiziere. Das ist ein vortreffliches Institut in Preußen. Es versorgt alle Zweige der Staatsverwaltung mit Beamten, sämtliche Ministerien in Berlin, sämtliche Ober- und Unterbehörden in den Provinzen, Gerichte, Magistrate, Post und Polizei, Universitäten und Gymnasien, Gefängnisse und Zollämter; allerdings zuerst nur mit Unterbeamten; aber Unterbeamte können avancieren und selbst Minister werden, und von einem zwölf Jahre gedienten Unteroffizier wissen wir bestimmt, dass er Minister wurde.

      Als der General aus dem Wagen blickte, wurde er erkannt.

      Unter den alten Unteroffizieren entstand ein Gemurmel: »Der General von Steinau!«

      Einige machten etwas bittere Gesichter, andere desto freundlichere, selbst glückliche.

      Ein alter General hat manche gute und manche schlechte Stunde gehabt, und seine Untergebenen haben die einen wie die andern empfinden müssen. Der General von Steinau hatte sie gehabt von der Zeit an, da Fuchtel und Korporalstock regierten, bis zu der Zeit, da Vaterlandsliebe und Begeisterung Preußens Heere von Sieg zu Sieg führten.

      Der erste der Grenzbeamten trat an den Wagen des Generals.

      »Gehört auch der andere Wagen zu Ew. Exzellenz?«

      »Ja.«

      »So wünsche ich Exzellenz untertänigst eine glückliche Reise.«

      Da erkannte auch der General den Beamten.

      »Ah, Sergeant Kappel!«

      »Jetzt Oberaufseher, zu Befehl, Exzellenz!«

      »Wir fochten bei Großbeeren, braver Kappel!«

      »Und bei Leipzig, Exzellenz!«

      Dem Manne standen die Tränen in den Augen.

      Die andern alten Unteroffiziere traten herzu.

      Der General kannte auch von ihnen noch manchen.

      Sie hatten jetzt alle glückliche Gesichter.

      In den glücklichen Gesichtern sah man schon das Lebewohl donnern, das sie dem General bei der Abfahrt nachrufen wollten.

      Der Domherr trat zu ihnen.

      »Meine Herren, ich sehe es Ihnen an, dass Sie Ihrem General ein Hurra bringen wollen.«

      »Die Berge sollen davon widerhallen!«

      »Ich kann es mir denken. Aber wir führen eine Schwerkranke bei uns, die der Ruhe und der Stille bedarf. Wie wäre es, meine Herren, wenn Sie nachher in gutem Rheinwein den General leben ließen?«

      Eine Handvoll Krontaler glitt bei den Worten in die Hand des Oberaufsehers Kappel.

      Der Domherr kannte die magische Kraft guter Brabanter Krontaler.

      Die Herren ließen ihr Hurra.

      Der Domherr aber ging noch zu dem Wagen seines Neffen, der an der Seite hielt.

      Er wandte sich zuerst an Mahlberg.

      »Ihre Frau schläft. Der Arzt ist vollkommen zufrieden. Zu unserer gänzlichen Beruhigung wird er bei uns bleiben, bis jede Spur von Gefahr beseitigt ist.«

      »Willst Du nicht Gisbertinen Adieu sagen?« fragte er dann seinen Neffen.

      »Wozu?« meinte Gisbert.

      »Darf ich dieses Wozu ihr wieder sagen?«

      »Warum nicht?«

      Der Domherr kehrte zu den beiden andern Wagen zurück.

      Sie passierten die Grenze.

      Eine Viertelstunde später folgte ihnen langsam der Wagen, in dem sich Gisbert und Mahlberg befanden.

      In einem Gasthofe des reizenden Städtchens Karlshafen an der Weser saßen ein Herr und eine Dame beisammen; eigentlich saßen sie wohl nicht beisammen. Sie waren in einem Zimmer, dessen Fenster auf den belebten Hafen führten. Die Dame hatte sich an eins der Fenster gesetzt und schaute nach dem Hafen hinaus; sie schien gelangweilt und nicht guter Laune zu sein. Der Herr hatte sich bequem aus dein Sofa niedergelassen, eine elegante Pfeife von Meerschaum im Munde. Aber er rauchte nicht; er saß erwartungsvoll und gedankenvoll da; über dem Warten und Denken war ihm die Pfeife ausgegangen. Beide verhielten sich schweigend.

      Plötzlich sprang die Dame auf.

      Man hatte das Blasen eines Extraposthorns gehört; die Dame hatte einen Blick durch das Fenster unten auf die Straße geworfen. Was sie gesehen hatte, litt sie nicht mehr in ihrem Fauteuil. Sie war sogar rot geworden. Sie warf einen Blick auf den Herrn, zuerst zweifelhaft, dann spöttisch; dann setzte sie sich ruhig wieder hin. Es schien ihr ein Gedanke gekommen zu sein.

      Der Herr hatte ihren Bewegungen etwas verwundert zugesehen.

      »Was war da?« fragte er, aber dennoch gleichgültig.

      »Nichts!« war die kurze, kalte Antwort.

      »Das Nichts muss ich oft von Dir hören«, sagte der Herr ein wenig pikiert.

      Die Dame antwortete ihm gar nicht.

      Sie blickte wieder auf die Straße zu dem Weserhafen hinaus.

      Der Herr bemerkte, dass ihm die Pfeife ausgegangen war. Er zog ein elegantes Etui mit Feuerzeug hervor, um sie wieder anzuzünden.

      »Was sahst Du eben?« fragte er unterdes noch einmal.

      Die Dame hatte wohl ihren Entschluss gefasst oder sich auch wohl wieder anders besonnen.

      »Den Grafen Westernitz«, antwortete sie.

      Sie sprach es etwas keck, beinahe herausfordernd.

      Durch das Gesicht des Herrn zog sich ein Ausdruck