Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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schon längst nicht mehr zur königlichen Residenz. In den Zeiten der Demagogenverfolgungen war es als Gefängnis eingerichtet. Die Gefängnisse in Berlin waren von allen den »Hochverrätern« überfüllt, da musste das Köpenicker Schloss aushelfen. Es musste aushelfen zugleich für die Zwecke der Untersuchung. Die Gefangenen wurden nach gewissen Kategorien gesondert, teils nach den einzelnen verbrecherischen Attentaten, an denen sie sollten teilgenommen haben — die Attentate bestanden hauptsächlich in Sitzungen und Kongressen der Burschenschaften — teils nach der Gefahr von Kollusionen miteinander. Kolludieren und Kollusion heißt in der Sprache der Kriminalisten bekanntlich heimliches Besprechen von Mitschuldigen oder auch Zeugen zur Verdunkelung der Wahrheit. Manchmal — und das gehörte und gehört zu den Künsten des Inquirierens — wurden auch Gefangene einander nahegebracht, gerade damit sie kolludieren sollten; sie wurden dann behorcht oder am andern Tage vor den Inquirenten geführt, der durch geschickte Fragen über das, was sie miteinander gesprochen, sie in Lügen oder Widersprüche zu verwickeln suchte. Jede Lüge, jeder Widerspruch bildete dann ein sogenanntes Indicium oder eine Anzeige, auf welche sofort strengere Behandlung im Arrest folgen, später aber das Strafurteil mit gebaut werden konnte.

      Es war an einem Abend im Monat Juli, als einer der gefangenen Demagogen des Köpenicker Schlosses allein in seiner Zelle saß.

      Draußen regnete es. Ein leichter Wind schlug den Regen gegen das einzige Fenster des Gefängnisses. Das war das einzige Geräusch, das man in der Zelle vernahm, und außer ihm herrschte rund umher eine Stille, als wenn das ganze große Köpenicker Schloss ausgestorben sei und mitten in einer Einöde liege.

      Der Gefangene stand an dem Fenster und schaute durch die stark und fest vergitterten Scheiben in den trüben, regnerischen Abend hinein. Es war dunkel in der Zelle; da war es wohl der einzige Zeitvertreib, den er sich machen konnte, die Regentropfen zu zählen, die der Wind gegen das Fenster trieb, den abwechselnden Tönen des Windes zu lauschen, durch Regen und Wind zu dem trüben, grauen Himmel hinaufzublicken. Es war ein trauriger Zeitvertreib. Aber gab er nicht dennoch Hoffnung auf Befreiung, Erlösung? Der Gefangene schöpft sie aus allem.

      In die Hoffnung mischt sich, wenn auch nicht die Furcht, doch die Sorge, der trübe Gedanke.

      Der Gefangene wurde in seinen Hoffnungen und Sorgen unterbrochen.

      Er horchte, als wenn er etwas anderes als Wind und Regen vernommen habe. Er horchte nach der linken Mauer seiner Zelle hin. Er hatte schon am Tage dort Geräusch vernommen, heute zum ersten Mal, seitdem er seine Zelle bewohnte, und er bewohnte sie schon seit länger als einem halben Jahre.

      Nebenan musste gleichfalls eine Gefängniszelle sein; sie musste bis heute leer gestanden haben, erst heute bezogen worden sein. Wer war sein neuer Nachbar? Auch ein Schicksalsgenosse?

      Die Fragen drängten sich lebhafter an ihn heran, als es nebenan wiederum laut wurde.

      Er hatte sich nicht geirrt; er hörte wirklich etwas jenseits der Mauer; er unterschied es. In dem Raume dort, mochte es eine Gefängniszelle oder ein anderes Gemach sein, ging jemand auf und ab; es war ein rascher Schritt.

      »Wer kann das sein? Ob ich mich mit ihm in Verbindung setze? Es ist verboten. Es könnte ein Spion sein, den sie mir hergeschickt haben, damit ich mit ihm anbinde.«

      Er war näher an die Mauer getreten, als wenn er noch genauer hinhorchen, vielleicht auch durch irgendein Zeichen seine Nachbarschaft kundgeben wolle. Er trat zurück, wieder an das Fenster.

      Aber er hörte wieder den raschen Schritt nebenan.

      »Das ist ein neuer Gefangener, vielleicht soeben erst seiner Freiheit entrissen, und er schreitet in der ersten Stunde seines Lebens, die er hinter Schloss und Riegel verbringen muss, im Unmut, im Zorn so rasch einher.

      Dein Zorn ist ohnmächtig, du armer Nachbar und unglücklicher Leidensgenosse. Die Mauern sind hier stark, die Gitter an den Fenstern fest, die Schlösser unzerstörbar. Gegen sie alle vermögen wir nichts. Und dennoch sind sie unsere geringsten Feinde und Widersacher hier. Die schlimmsten sind der Kriminalrat und die Zeit. Aber dem Kriminalrat können wir unsere Verachtung entgegensetzen, und wir haben dann die Genugtuung, uns zu überzeugen, dass wir die freien Männer sind und er ein jammervoller, erbärmlicher Sklave eigener und fremder Nichtswürdigkeit. Und was die Zeit betrifft — ah, wenn wir es mit der nur recht anzufangen wissen, so wird sie unsere beste Freundin hier und lehrt uns Ruhe und Geduld und Ergebung; denn die Zeit, die ewige, zeigt uns, dass außer ihr nichts von Bestand ist, dass, wie der blöde Mensch sagt, nach dieser Zeit eine andere kommen muss. Mache auch du sie dir zur Freundin und Lehrmeisterin. Werde geduldig, wie ich es bin.«

      Er konnte philosophieren, der einsame Gefangene, auch über Ruhe und Geduld. Aber die Philosophie gibt nicht immer Ruhe und Geduld.

      Wer es sein mag? Die Frage drängte sich immer wieder an ihn heran.

      Auch er ging in seiner Zelle auf und ab, schneller, lauter als sonst wohl, vielleicht unwillkürlich, vielleicht ohne Absicht, dass der Nachbar ihn hören solle. Wer kann wissen, ob er nicht dennoch daran dachte?

      Drüben wurde es still; kein Schritt, kein anderer Ton wurde mehr dort vernommen.

      »Er hat mich gehört! Er horcht nach mir!« sagte der Gefangene.

      Er blieb stehen, um zu hören, was drüben weiter geschehen werde.

      Der Schritt wurde dort wieder laut, aber langsamer, leiser.

      »Er hat mich gehört! Er berät mit sich, was er tun soll. Er ist wohl ebenso unschlüssig wie ich. Ob ich ihm entgegenkomme? Ich bin der Ältere hier!«

      Er erhob den Finger, um an die Wand zu klopfen.

      Wer will es dem armen Gefangenen verdenken, der seit so langer Zeit keinen andern Menschen gesehen hatte als seinen Inquirenten und Gefangenenwärter, mit keinem andern gesprochen hatte als mit diesen, wer will es ihm verdenken, wenn er dem Bedürfnisse nicht widerstehen konnte, eine Verbindung mit einem menschlichen Geschöpfe zu versuchen, das endlich einmal in seine Nähe gekommen war, das wohl längere Zeit da bleiben musste, das in gleicher Lage war wie er, das das gleiche Bedürfnis fühlen musste wie er? Es war endlich ein Mensch für ihn da. Sein Kriminalrat, sein Gefangenenwärter waren es ihm nicht; was hatten sie für ihn Menschliches? Und wenn zwei Wilde, die sich nie sahen, im dichten, einsamen Walde, in weiter, öder Wüste sich begegnen, werden, können sie aneinander vorübergehen, ohne Blicke und Worte auszutauschen, ohne durch Mienen sich gegenseitig verständlich zu machen?

      Er schwankte dennoch. Das Misstrauen beschlich ihn wieder. Wenn es ein Spion, ein Verräter wäre!

      Die Tür seiner Zelle wurde von außen aufgeschlossen.

      Es geschah langsam, leise, ganz anders wie sonst.

      Es war zu einer ungewöhnlichen Zeit. Die Schlossuhr hatte schon neun geschlagen. Um sieben Uhr hatte der Gefangenenwärter das Nachtessen gebracht, in der Zelle nachgesehen, ob alles in Ordnung sei, sein einförmiges »Gute Nacht!« gesagt und die Tür fest und sicher hinter sich verschlossen. Solange der Gefangene hier war, war dann am Abend oder in der Nacht niemand wieder zu ihm gekommen, nicht der Gefangenenwärter, nicht ein anderer.

      Erst am andern Morgen kehrte der Wärter zurück, um das Frühstück zu bringen und nachzusehen, ob auch in der Nacht alles in Ordnung geblieben sei.

      Wer kam heute noch zu ihm in so völlig ungewöhnlicher Stunde? Was wollte der späte Besucher von ihm? Um neun Uhr abends ruhte regelmäßig alles in dem weiten Gebäude.

      Die Tür war geöffnet.

      Eine männliche Gestalt trat in das Gemach.

      Der Gefangene konnte sie nicht unterscheiden, nicht erkennen.

      Sie trug eine kleine Blendlaterne, deren Blendungen bis auf einen schmalen Raum von der Breite eines Fingers zusammengeschoben waren. So konnte nur ein schwaches, zweifelhaftes Licht in das Gemach dringen; den Mann, der die Laterne vor sich in der Hand hielt, beschien sie gar nicht.

      Dieser verschloss sorgfältig die Tür, durch die er eingetreten war.

      Dann erweiterte er die Öffnung der Laterne