Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      »Das sagte der brave Gisbert? Der arme Bursche! Was wusste er früher von Politik, vom deutschen Volke, von deutschen Rechte? In den Krieg zog er, weil gewisse Launen ihn hineintrieben. Heute auf einmal wird er ein deutscher Patriot, träumt er von Recht und Rechten, vielleicht von dem schwarzrotgoldenen Banner einer deutschen Republik. Hm, wer macht denn die Demagogen, die Republikaner und zuletzt die Republik selbst.«

      Dann wurde er doch ernsthaft.

      »Aber der arme Mahlberg! Dem Gisbert werden sie am Ende nicht viel tun. Unser westfälischer Adel ist ihnen doch eine Macht.«

      »Mahlberg ist der andere Gefangene?« fragte Karoline.

      »Nur er kann es sein! Er war hier.«

      Der Domherr erzählte, was Mahlberg gewollt, was seine Frau darauf erwidert hatte.

      »Die arme Frau!« sagte Karoline. »Und nun muss dieser Schlag sie treffen. — Und doch!« rief sie dann auf einmal. »Ich kann mich nicht in ihre Lage versetzen, nein, ich kann es nicht, aber es lebt dennoch ein Gefühl in mir, das mir sagt: da hat sich ein Unglück zugetragen, das zum Glücke führen kann.«

      »Und wie sollte es das?« fragte der Domherr.

      »Onkel Florens«, sagte das Mädchen, »Du, der Du in allem so klar siehst, fragst mich das?«

      »Hm, mein Kind«, meinte der Domherr, »das Frauenherz ist manchmal ein Ding, in das ein Mann gar keinen Blick, über das er gar kein Urteil hat, habe er das schärfste Auge, den klarsten Verstand.«

      »Aber das Herz des Mannes, Onkel?«

      »Ist erst recht ein ander Ding. Aber gehen wir zu ihr.«

      Sie gingen zu der Frau Mahler.

      »Liebe Frau Mahler«, sagte der Domherr, »ich habe Karolinen alles erzählt, was wir beide unter den Birken besprachen.«

      »Und was ist Deine Meinung, meine Freundin?« fragte die Frau.

      Der Domherr antwortete.

      »Es ist unterdes ein Zwischenfall eingetreten, der die Lage der Sache verändert.«

      »Er wäre?«

      Die Frau konnte kaum die zwei Worte hervorpressen.

      »Meine liebe Frau«, sagte der Domherr, »wenn Ihren Mann so ein recht großes Unglück träfe, in dem ihm nur eins fehlte, nur eins nottäte, die Liebe seiner Frau, würden Sie das für ein Glück halten?«

      »Für ein Glück? Was ist geschehen? Nehmen Sie die schwere Angst von mir.«

      »Haben Sie von den Ereignissen des Abends gehört?«

      »Ich habe niemand gesprochen. Ich war bei meinem Kinde.«

      »So hören Sie.«

      Der Domherr erzählte ihr die Verhaftungen des Abends.

      Sie konnte ihm mit großer Fassung zuhören.

      »Ja«, sagte sie dann, »das ist ein Umstand, der alles verändert, der jeden Gedanken an eine Wiedervereinigung für immer zurückdrängen muss.«

      »Hm, und wie das?« rief der Domherr.

      »Jetzt gilt«, sagte die Frau, »nur meine Liebe, meine Hilfe, meine Tröstung; Sie hatten auch darin Recht. Aber wäre eine eigennützige Liebe hier nicht ein doppelt empörender, verächtlicher Verrat?«

      »Und wer wollte von Eigennutz sprechen?«

      »Eine Wiedervereinigung!«

      »Ah«, sagte der Domherr zu Karolinen, »hatte ich nicht Recht? Der Mann hat keinen einzigen Maßstab in sich zur Beurteilung der Frauenherzens. Und hat nicht ihr Herz das Wahre und Rechte getroffen?«

      »Ich weiß es doch nicht«, sagte Karoline, aber sie sagte es nur halblaut für sich.

      Der Domherr hatte es dennoch gehört.

      »Aber dies weiß ich«, sagte er. »Und Du und die ganze Welt magst es meine Marotte nennen und mich darüber auslachen; ich bleibe dennoch dabei: dieser Krieg von 1815 ist ein Unglück. Da haben der brave Mahlberg und der Narr Gisbert darin für König und Vaterland geblutet, und zum Dank werden sie jetzt als Verräter von König und Vaterland in den Kerker geschleppt. Da haben sie ihr Blut vergessen und ihr Leben gewagt, Dein tapferer Friedrichs und der mutige Becker, und zum Lohne muss der eine sich in die Tucheler Heide eingraben lassen und der andere wieder die Kellnerserviette unter den Arm nehmen, wenn sie nicht beide verhungern wollen. Und das ganze deutsche Volk hat geblutet und gelitten, und zum Danke und zum Lohne — bah, schimpft mich einen alten Republikaner!«

       Zweites Kapitel.

       Die Gefangenen im Schlosse zu Köpenick

       Inhaltsverzeichnis

      Es war eine schlimme Zeit für Deutschland. Das deutsche Volk hat viele schlimme und schwere Zeiten durchmachen müssen. Auf Rosen ist es wahrlich auch heute nicht gebettet. Aber welches Volk wäre das? In der Schweiz und in England leben sie frei, aber ihre Not haben sie auch da. Freilich schafft dort das Volk selbst sich seine Not, und anderswo hat es nur die zu tragen, die ihm von andern gebracht wird.

      Deutsche Jünglinge und Männer waren zu vielen Hunderten eingekerkert. Man beschuldigte sie des Hochverrats. Ihre Liebe zum deutschen Vaterlande hieß Demagogie; ihre Begeisterung für Deutschlands Ruhm und Größe wurde mit dem Namen demagogische Umtriebe bezeichnet. Man hatte ja die »Demagogenfänger« gegen sie ausgesandt; andere Verräter fanden sich hinzu. In den verschlossenen Kerkern und in den heimlichen Gerichtsstuben wurden alle Mittel und Künste des geheimen Inquisitionssystems gegen die Armen in Anwendung gebracht, um sie zu bewegen, dass sie sich selbst schuldig bekennen und ihre Leidensgenossen als Mitschuldige denunzieren sollten.

      Der Graf Dietrich Bocholtz, der edle Westfale — er gehörte zu den Eingekerkerten — in seinen Kerker begab sich einer der höchsten Staatsbeamten, um selbst zu versuchen, das von ihm zu erreichen, was den gewöhnlichen Inquirenten zu erreichen nicht möglich gewesen war, ein Geständnis. Der hohe Beamte wählte das Mittel des väterlich wohlwollenden Zuredens.

      »Sehen Sie mich als Ihren Vater an, Herr Graf.«

      »Exzellenz, keine Beleidigung!« war die Antwort des jungen Grafen.

      Die Eingekerkerten wurden von einem Gefängnisse zum andern geschleppt, von Mainz, wo die Zentraluntersuchungs-Kommission war, nach Berlin, von Berlin nach Köpenick, von Köpenick wieder nach Mainz, Gott weiß, wohin sonst noch.

      Die Untersuchungen wurden mit der größten Heimlichkeit geführt; niemand erfuhr etwas von den Verhandlungen; die Presse durfte, unter der strengen Zucht der Zensur, ihrer nicht einmal erwähnen.

      Die Untersuchungen dauerten jahrelang. Jahrelang erfuhr niemand etwas von dem Schicksale der Gefangenen, nicht die Verwandten, nicht die Freunde.

      Jahrelang erfuhr man oft später nichts, wenn die Untersuchung längst beendet war. Sie waren still und heimlich zur Verbüßung ihrer Strafen in die Zitadellen und Kasematten der Festungen abgeführt; denn zu Strafen waren sie verurteilt mit oder ohne Geständnis. Gegen manche waren gar Todesurteile gefällt; nur vollzogen ist keins. Die Fürsten bestätigten die Todesurteile nicht.

      Nur die Justiz war ebenso fanatisch wie servil und feig. O, ich kenne noch viele Richter aus jener Zeit.

      Sie waren damals junge Männer, die Karriere machen wollten. Man sah sie bei den Präsidenten und Ministern antichambrieren, um sich ein Kommissorium, eine Untersuchung, ein Referat, nur ein Korreferat in einer Demagogensache zu erbitten. Sie mussten dann Resultate ihres Diensteifers liefern. Sie lieferten sie; sie machten ihre Karriere.

      In dem Städtchen Köpenick, zwei Meilen von Berlin, zieht sich ein weitläufiges königliches Schloss