Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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Es war auch still hier, wie jetzt; man glaubte das leise Zittern der Herzen hören zu können. Und aus der Ferne, vom Gute, tönte die Tanzmusik herüber.

      Sie feierten das Erntefest wie heute.

      Sechs Wochen vorher war ich zum ersten Mal hier gewesen. Ich hatte meinen Vater zum Bade Hofgeismar begleiten müssen. Ich war kein Kranken. Ich schweifte in den Bergen umher, bei Tag, bei Nacht, wie es sich traf, heute nach dieser Seite, morgen nach jener, immer allein.

      So war ich nach Ovelgönne gekommen. Der wunderliche graue Steinbau fiel mir auf. Was mochte er bergen? Kein Gesicht schaute ans den schmalen; so sparsam und unordentlich in den alten Mauern herumgestreuten Fenstern. Kein Ton drang aus dem Innern hervor. Es war gegen Abend, als ich hingekommen war; ich wartete den ganzen Abend vergebens. Ich brachte die Nacht bei Köhlersleuten im Walde zu. Am andern Morgen mit dem Aufgange der Sonne war ich wieder da. Und zehn Minuten später öffnete sich kein Fenster, aber die Tür, die aus dem Hause in den Garten führt. Ein junges Mädchen trat in den Garten.

      Es war Deine Mutter, Karoline.

      Du warst es. Sie war, wie Du heute bist.

      Sie trug eine Gießkanne. Sie begoss die Blumen, an denen der Tau der Nacht vorübergegangen war. Als sie zu einem Rosenstock kam, trat ich in den offenen Garten. Sie erschrak; sie hatte mich vorher nicht gesehen.

      ‘Ich bitte Sie nur um eine Rose!’ sagte ich.

      Sie wurde verwirrt. Dunkle Glut übergoss das schöne Gesicht. Sie gab mir die Rose, in der Verwirrung vielleicht.

      Und mit der Blume entfloh ich. Es war mir auf einmal, als wenn ich einen Raub begangen hätte, als wenn meine Beute mir sollte wieder abgenommen werden, und ich hätte sie mit meinem Leben verteidigt, und die Beute, die Blume war das schöne Mädchen, das sie mir gegeben hatte. Ich war verwirrter als sie. Ich hatte ihr nicht einmal meinen Dank gesagt. Den musste ich ihr bringen. Was hätte sie von mir gedacht? Am andern Morgen, als die Sonne aufging, war ich wieder da. Wenige Minuten später erschien sie wieder im Garten. Ich war wieder bei ihr. Sie erschrak nicht wieder, und ich war nicht wieder verwirrt. Ich sagte ihr meinen Dank; ich sagte ihr noch mehr; wir plauderten, wir erzählten. Sie sagte mir, wie sie vor wenigen Wochen aus dem Kloster zu Paderborn gekommen, wo sie zwei Jahre lang bei den Ursulinerinnen erzogen sei; jetzt solle sie dem Vater hier die Wirtschaft führen; ihre Mutter sei tot, sie sei das einzige Kind. Ich erzählte ihr von meinen Universitätsjahren, von den Reisen, die ich dann durch Europa gemacht und von denen ich erst vor kurzem zurückgekehrt sei; von meinem Vater, von Hofgeismar, von meinen Streifereien durch die Berge. Als ich am dritten Morgen wiederkam, waren wir wie alte Bekannte Sie hatte das reinste, das edelste, das kindlichste Herz, und mein Herz liebte sie, liebte sie von dem Momente an, da ich sie sah. Und, Karoline, sie liebte auch mich. Wir waren glücklich in unserer Liebe.

      Das Glück, das die Herzen empfunden, das die Blicke sich schon versichert hatten, mussten auch die Lippen aussprechen. Ein höheres konnte es dadurch nicht werden, nur ein gesicherteres und ruhigeres. Dann kam das Verlangen, es ganz für das Leben zu sichern. Junge Herzen kennen keine Schwierigkeiten, keine Hindernisse.

      Umso unübersteiglichere Schranken stellen sich ihnen gegenüber.

      ‘Niemals!’ sagte mein Vater. ‘Eine Mesalliance ist ein Verhältnis gegen das Leben, also gegen die Natur. Deine Kinder wären wie Bastarde, nein, sie wären es geradezu. Du wirst nie meine Einwilligung zu einer Heirat mit einer Bürgerlichen erhalten.’

      Und zu Deiner Mutter sagte ihr Vater:

      ‘Eine Missheirat ist ein Unglück; Du würdest aus Deinem Stande heraustreten und in den Deines Mannes nicht aufgenommen werden. Mit Deinen Kindern wäre es nicht anders. Ich kann nie meine Einwilligung zu etwas geben, das Dich und Deine Kinder unglücklich machen müsste.’

      Es war das Vorurteil der Zeit. Die gegenwärtige Zeit hat es abgestreift. Wie viel Blut, wie viele Unfreiheit hat es gekostet! Freilich, die Gleichstellung der christlichen Konfessionen forderte einen dreißigjährigen Krieg. Die neueste Zeit will wieder reagieren; der letzte Feldzug nach Frankreich galt im Grunde nur dieser Reaktion — aber kommen wir auf Deine Mutter zurück. — Sie liebte ihren Vater, ich den meinigen. Wir beide waren in der Liebe und dem Gehorsam der Kinder gegen die Eltern aufgewachsen, auferzogen. Das waren keine Vorurteile.

      ‘Ich werde Geistlicher werden’, sagte ich zu meinem Vater ohne allen Trotz.

      ‘Gut, ich werde Dir eine Dompräbende kaufen’, er widerte er mir ohne alle Ironie.

      Dein Großvater sagte zu Deiner Mutter:

      ‘Suche Dir in Deinem Stande einen Mann aus, welchen Du willst.’

      Deine Mutter war ihrer Eltern einziges Kind. Ihr fiel nach dem Tode des Vaters das schöne und reiche Gut Ovelgönne zu. Auf dem Gute lebte ihr Vetter Robert Lohrmann. Dein Großvater hatte ihn als arme Waise zu sich genommen; er war der Sohn seines früh verstorbenen Bruders. Er war ein stiller, braver junger Mann.

      Für Deine Mutter hätte er sein Leben hingegeben.

      ‘Lass’ mich den Vetter Robert heiraten’, bat Deine Mutter den Großvater.

      Die Bitte erfüllte ihm einen Wunsch, den er nicht gewagt hatte auszusprechen.

      In den ersten Tagen des August musste ich mit meinem Vater Hofgeismar verlassen.

      Am Erntefeste nahmen Deine Mutter und ich Abschied voneinander; hier, auf dem Grabe ihrer Mutter, in stiller, heiliger Abendstunde; die Tanzmusik tönte aus der Ferne zu uns herüber, wie heute. Es war kein Abschied auf immer.

      ‘Wir bleiben Freunde!’

      ‘Für immer!’

      ‘Wir sehen uns wieder.’

      ‘Wir sehen uns wieder!’

      Was in der heiligen Stunde die Herzen sich gelobt hatten, die heiligste Freundschaft verband sie für das Leben.

      Lange Jahre sahen wir uns nicht. Es waren schwere Wunden, von denen unsere Herzen vorher genesen mussten.

      Ich trat in den geistlichen Stand; dann machte ich weite Reisen durch die halbe Welt. Dann sah ich mir das Leben und Treiben der Völker näher an, den Despotismus, die Knechtschaft. Frankreich, Paris fesselten mich zuletzt. Ich studierte das Königtum, die Republik. Ich sah das eine Sturm laufen zu dem Abgrunde, der es verschlingen sollte; ich sah die andere in jenen furchtbaren krampfhaften Windungen, um das Leben zu gewinnen, in dem schwersten, entsetzlichsten Kampfe mit sich selbst. Ich sah sie sterben in jenen Krämpfen, in diesem Kampfe. Aber sie starb wie ein Phönix.

      Als der erste Kaiser der Franzosen gekrönt war, kehrte ich in mein deutsches Vaterland zurück, um hier von neuem einem Gange der Ereignisse zu folgen, dessen traurigen Verlauf ich auf der andern Seite des Rheins angesehen hatte. Ich sah nicht so Entsetzliches, aber ich sah Schmachvolles. Ich sah den Verrat, den Verkauf des Vaterlandes von oben, von den Thronen herab.

      Eine neue, eine andere Wunde zerriss mir das Herz; sie hatte die erste heilen helfen.

      Ich kehrte nach Ovelgönne zurück. Deine Mutter trug Dich mir entgegen. Du warst wenige Wochen alt. Dein erstes Lächeln galt uns beiden, mir, ihr. Es war uns eine glückliche Vorbedeutung für Dich. Wir lebten in Dir. Du wurdest unser beider Engel. Ich sah Dich von Jahr zu Jahr.

      Deine Mutter sah ich nicht viele Jahre mehr. Selbst die heilige Mutterliebe hatte ihrem Körper die frühere Kraft nicht zurückgeben können.

      Sie starb so früh.

      Aber erzähle mir jetzt von Dir, Karoline.«

      Sie erzählte ihm:

      »Es war keine frohe und stille Zeit, es waren traurige, stürmische Tage, da ich Friedrichs zuerst sah. Im November des Jahres 1813 nach der Schlacht von Leipzig flohen aus allen Gegenden Deutschlands die Franzosen dem Rheine zu. Auf den großen Heerstraßen zogen die geschlossenen Kolonnen; in die Gebirge warfen sich die vereinzelten Trupps. Besonders diese bezeichneten ihren Weg durch Plünderungen, Exzesse, Rohheiten und Grausamkeiten