Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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erlitten hatten. Auch durch das Ovelgönner Tal kamen Tag für Tag Züge der Flüchtigen, von zehn, zwanzig und mehr Mann. Auf Haus und Gut Ovelgönne fielen stets zuerst ihre Blicke. Von hier nahmen sie alles mit, was sie mitschleppen konnten, was sie bedurften oder nicht bedurften. Eines Tages kam ein großer Haufen von mehr als hundert an; es war eine wilde Bande. Sie forderten zu essen, zu trinken. Wir gaben ihnen, was wir hatten. Sie verlangten mehr. Sie erbrachen die Vorratskammern, die Keller. Sie fanden nichts mehr. Es war alles aufgezehrt, durch ihre Vorgänger, durch sie selbst. Sie gerieten in Zorn, in Wut. Sie verlangten Geld. Der Herr des Hauses solle hervorkommen. Im Hause war kein anderer Herr als ich. Ich trat zu ihnen heraus. Meine Leute wollten mich zurückhalten. Die Wütenden drohten, das Haus mit den Wirtschaftsgebäuden anzuzünden, wenn der Herr nicht zu ihnen herauskomme. Ich trat ruhig und entschlossen zwischen sie. Sie waren einen Augenblick überrascht, als sie eine junge Dame sahen. Dann schrien einige: ‘Ah, die Tochter! Der feige Vater schickt sie vor! Der Elende verdient den Tod!’ Da sahen sie mein schmerzliches Lächeln und sie wurden still und ich konnte ihnen sagen: ‘Mein armer Vater ruht längst dort im Grabe!’ Aber die Stille dauerte nur kurze Zeit. Sie hatten in einem Keller ein Fass mit Branntwein entdeckt.

      Die meisten von ihnen hatten sich berauscht. Ihre Wut erhob sich wieder, fachte die der andern an. ‘Ist sie der Herr des Hauses, so soll sie geben, was wir von dem Herrn des Hauses verlangten. Und gibt sie es nicht, so nehmen wir sie als unsere Beute mit’, riefen einige; ‘so sterbe sie!’ riefen andere. Ich war umringt; ich wurde dichter umdrängt. Sie wollten Hand an mich legen.

      ‘Im Sturmschritt vorwärts!’ rief es auf einmal seitab vom Hause. Es war ein deutsches Kommando.

      Die Franzosen flogen auseinander, zu ihren Gewehren In einem Moment standen sie in Reih’ und Glied, fertig zum Kampfe. Man muss es ihnen lassen. Und es waren so viele unter ihnen, die im Augenblicke vorher noch getaumelt hatten. Sie wollten sich verteidigen.

      Aber es waren zwei Kompanien preußische Landwehrmänner, die im Sturmschritt gegen sie anrückten.

      Eine dritte Kompanie kam links aus dem Gebirge in das Tal herunter. Einer solchen Übermacht erfolgreich Widerstand zu leisten, war nicht möglich. Der Anführer der Franzosen sah es ein. Er ließ seine Leute das Gewehr strecken. Die Truppe ergab sich dem Anführer der Preußen.

      Es war der Major Friedrichs.

      Soll ich Dir noch mehr erzählen, Onkel Florens, von dem Manne, den Du kennst, von meinem Herzen, das Du ja auch kennst?

      Doch! Er durfte nur einen Tag bleiben, dann musste er weiter in der Verfolgung des fliehenden Feindes.

      ‘Darf ich wiederkommen?’ fragte er beim Abschiede.

      Mein Herz hatte nur ein tausendfältiges Ja; meine Lippen hatten kein Nein.

      Es war ein banger Winter, den ich verlebte, in so reicher Hoffnung zwar, aber in umso größerer Furcht.

      Das Frühjahr kam, der Sommer. Der Friede war geschlossen; die Truppen kehrten aus Frankreich zurück.

      Ich erwartete ihn, ich erwartete Dich. Ihn — soll ich es Dir noch sagen, mit welcher marternden Herzensangst? Dich, um an Deiner treuen Brust laut in meinem Glücke aufzujubeln, oder mit brechendem Herzen zu sterben. Ja, Onkel Florens, so war mir. Es ist doch ein eigen Ding um die Liebe, mag das Herz sich noch so stark fühlen, der Verstand sich noch so hell und klar dünken. Wäre er nicht wiedergekommen, wäre er in einer der wilden Schlachten gefallen, hätte er gar mich vergessen —. aber er kam.

      Es war ein stiller Sommerabend. Ich saß allein im Garten träumend, nur von ihm. Da hörte ich das Rollen eines Wagens, der zum Hause fuhr. Da sah ich an dem Pförtchen des Gartens ihn. Er war ausgestiegen und dem Wagen vorausgegangen.

      Wie ich ihn sah, wie er mich sah, wie ich aufstand, ihm entgegenzugehen und nicht von der Stelle konnte, wie er auf mich zueilte und meine Hand nahm, wie ich ihm meine Hand ließ und sie in der seinigen zitterte — da hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Wir gingen als Brautleute aus dem Garten in das Haus.

      An meinem Glücke fehltest nur Du mir, Onkel Florens. Du kamst in dem Jahre nicht. Ich wusste nicht, wo Du warst, und ich konnte Dir nicht einmal Nachricht von mir geben. Aber im vorigen Jahre kamst Du wieder, und Du warst bei mir in den schweren Stunden der Angst, mit welcher der von neuem ausgebrochene Krieg mir noch so oft das Herz zuschnürte, dann aber auch in den Stunden meines seligsten Glücks.

      Und heute, Onkel Florens, sollst Du Richter sein zwischen uns beiden, zwischen Friedrichs und mir, in einem schweren Kampfe, der aber nicht zwischen uns beiden, sondern in uns selbst ausgebrochen ist. Darum hatte mein Zettelchen Dich hierher gebeten.

      Die Sache ist kurz und einfach und klar und doch so schwer für uns.

      Friedrichs war der Erste, der im Jahre 1813 dem Rufe des Königs folgte. Er gehörte schon vor diesem Rufe zu jenen Männern, die insgeheim für die Befreiung des Vaterlandes arbeiteten, von denen auch der Gedanke der Landwehr ausging. Wie er im Kriege gekämpft, an fast allen Schlachten seinen ruhmvollen Anteil gehabt hat, das weiß die Geschichte. Die Geschichte wird es auch aufbewahren, welcher Lohn ihm jetzt dafür wird.

      Seine militärische Laufbahn hat er verlassen müssen.«

      Der Domherr unterbrach sie.

      »Warum hat er die Landwehr stiften helfen? Warum ist er bürgerlich?«

      »Ja, ja, Onkel Florens, und wie klar ist mir jetzt geworden, was Du schon im vorigen Jahre von dem Kriege sprachst. Aber lass’ mich fortfahren. Zum Ersatz für das, was er aufgeben musste, haben sie ihm jetzt eine Gerichtsassessorstelle hinten in Polen oder Westpreußen angetragen. Vor drei Jahren wäre er schon Rat beim Obergerichte gewesen, hätte er nicht die Waffen für das Vaterland ergriffen.

      Friedrichs schrieb mir das. Ich bat ihn, bevor er einen Entschluss fasse, hierher zu mir zu kommen. Er ist seit einigen Tagen hier, und wir können nicht einig werden, weil jedes von uns seinen besonderen Entschluss hat und doch daran nicht so festhalten mag, um den des andern umzuwerfen.

      ‘Komme nicht’, sage ich zu ihm, ‘ferner bittend ein, wo Versprechungen Dir ein Recht geben; verpflichte Dich dem Undank nicht zum Danke. Werde Herr auf Ovelgönne, es bringt zehnmal mehr ein als eine Ratsstelle.’

      ‘Ich habe kein Vermögen’, sagt er. ‘Ich käme als ein Bettler nach Ovelgönne. Der Mann muss die Frau ernähren. Umgekehrt taugt es nicht; es bringt keine Ehre.’

      ‘Du kommst nimmer als Bettler hierher’, erwidere ich ihm. ‘Du bringst einen reichen Schatz an Arbeitskraft und Geschäftskenntnis mit; Du wirst in geringer Zeit vollendeter Landwirt werden.’

      ‘Ich würde Dir kaum einen Wirtschaftsinspektor ersetzen’, erwidert er mir dann, um mir nicht geradezu zu sagen, er werde hier nur mein Inspektor sein.

      Kann ich ihm da noch sagen: ‘Aber ich liebe mein Ovelgönne so sehr; hier war meine Wiege, hier ist mein ganzes Leben; hier liegen meine Eltern begraben! Soll ich das alles verlassen, um Dir in ein trauriges polnisches oder westpreußisches Städtchen zu folgen?’

      So stehen wir, Onkel Florens, und Du sollst zwischen uns, nein, für uns entscheiden.«

      Karoline schwieg.

      »Ihr habt Euch beide auf meinen Entscheid vereinigt?« fragte der Domherr.

      »Ja.«

      »Und jedes von Euch wird sich ihm unterwerfen?«

      »Jedes von uns; wir haben es uns feierlich gelobt.«

      »Auch Friedrichs, ohne dass ich ihn selbst gehört habe?«

      »Ich allein sollte Dir die Sache vortragen.«

      »Er hat viel Vertrauen zu Dir.«

      »Ja«, sagte das junge Mädchen stolz.

      »Und er kann es haben«, sagte der Domherr.

      »Das heißt, Onkel?«

      »Das Recht steht auf seiner Seite, die Ehre des