Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      »Besinnen Sie sich«, sagte der Domherr. »Ihr Mann schickt mich zu Ihnen, das Nähere über die Scheidung mit Ihnen zu verabreden. Überlegen wir das; das Erwägen der Mittel stellt den Zweck klarer heraus. Damit Ihr Mann der schuldige Teil werde, müssten Sie zuerst klagend gegen ihn auftreten.«

      »Ich gegen meinen Mann?«

      »Sie wollen also nicht von ihm geschieden werden?«

      »Wenn er es will, ja.«

      »Und sonst nicht?«

      Sie hatte wieder keine Antwort.

      »Sie lieben Ihren Mann noch?«

      »Kann ich je aufhören, den edelsten Mann zu lieben? Aber liebt er, liebt Mahlberg mich noch?« rief sie auf einmal.

      Der Sturm der schmerzlichsten Gefühle hatte sie bisher die Frage vergessen lassen. Oder hatte sie vorher nicht den Mut zu ihr gehabt?

      Sie erhielt heute seit Jahren, seit ihrer Flucht die erste Nachricht von ihrem Gatten.

      Es mochte dem Domherrn nicht in seinen Plan passen, ja zu sagen.

      »Wenn Ihr Mann also«, wiederholte er, »von Ihnen geschieden sein will, dann willigen auch Sie ein?«

      »Beantworten Sie mir meine Frage«, wiederholte auch sie. »Liebt mein Mann mich noch?«

      »Wir wollen ganz offen gegeneinander sein«, sagte der Domherr. »Ja, er liebt Sie noch. Sie können ihn nicht mehr lieben.«

      »O doch, doch!« rief sie.

      Sie rief es leidenschaftlich.

      Sie überhörte in ihrer Heftigkeit ein Geräusch, das seitwärts von der Bank unter den Bäumen des Wäldchens entstand. —

      Es hatte nur einen Augenblick gewährt· Es glich einer plötzlichen, vielleicht unwillkürlichen Bewegung eines Menschen, der dort an oder hinter einem Baumstamme stand. Sehen konnte man von der Bank aus in dem Dunkel der Bäume nichts, wohl aber mochte man von dort aus die in der Lichtung des Waldes gelegene Bank unterscheiden können.

      Der Domherr hatte die Bewegung vernommen. Sie schien ihm kaum unerwartet zu sein; er stutzte nicht einmal. Er fuhr ruhig in seiner Unterredung mit der Frau fort. Doch nein, nicht mehr mit seiner bisherigen Ruhe.

      »Und sie konnten«, rief er, »mit aller Ihrer Liebe den Mann vergessen, der Sie noch mehr, ja doch noch mehr liebt als Sie ihn, der Sie keinen Augenblick seines Lebens vergaß? Sie konnten den edelsten Mann so tödlich in seiner Liebe und, was dem Mann noch höher steht und stehen muss, an seiner Ehre verletzen, vernichten?«

      Die Frau krümmte sich in Tränen, in Schluchzen, in wildem Schmerze an der Seite des Mannes, der die harte Frage an sie richten konnte, eine Frage, deren Gegenstand er noch niemals, auch nicht im Entferntesten, gegen sie nur angedeutet hatte.

      »O«, schluchzte sie, »wenn Sie wüssten, wenn ich Ihnen sagen dürfte, mit welchen höllischen Künsten der Verführung ich umstrickt wurde! Von dem schlechtesten Menschen, von dem elendsten Bösewicht, den die Welt gesehen hat, der das Heiligste, was das Menschenherz besitzt, Freundschaft und Liebe nur kennt, um sie gleisnerisch zu erheucheln und durch seine Heuchelei die entsetzlichsten Zwecke zu erreichen!«

      Sie konnte nicht weiter sprechen.

      Auch der Domherr schwieg. Es tat ihm wohl weh, was er gesagt hatte.

      Dann nahm er wieder das Wort.

      »Aber fahren wir in unserer Überlegung fort. Ihr Mann will von Ihnen geschieden sein, und wie die Sache steht, muss er es. Sie willigen also ein?«

      »Ich willige ein.«

      »So hätten wir nach unsern vortrefflichen preußischen Gesetzen drei Wege für das weitere Vorgehen. Keins von Ihnen beiden nimmt irgendeine Schuld auf sich. Das nennt das Gesetz den Fall der unüberwindlichen gegenseitigen Abneigung. Sie treten beide mit Ihren Herzen voll Liebe vor den Richter und versichern feierlich: Wir können nicht mehr zusammen leben; wie hassen uns auf den Tod. Es ist nur ein Übelstand hierbei: das Gesetz lässt eine Scheidung wegen solcher unüberwindlichen gegenseitigen Abneigung nur bei ganz kinderlosen Ehen zu. Ihr Kind aber gilt so lange für Ihr und Ihres Gatten eheliches Kind, bis Sie Ihre Schuld gerichtlich auf sich nehmen und aus deren Grund Ihre Ehe getrennt wird. Der Weg ist also für unsern Fall nicht da. Unmittelbar daran schlösse sich der zweite Weg: Sie nähmen jene Schuld, von der ich sprach, auf sich.

      Es wäre der einfachste, der der Wahrheit, und Sie wollen ihn betreten. Aber Ihr Mann weist ihn zurück, und er muss ihn zurückweisen. Wohin würde er führen? Sie wären gebrandmarkt, Sie mit Ihrem Kinde, offen vor aller Welt, solange Sie leben, wo Sie leben, solange Ihr Kind lebt. Und nicht minder gebrandmarkt wäre Ihr Mann. Der brave Soldat dürfte seine Uniform nicht mehr tragen, der tüchtige Beamte würde von seinen Kollegen gemieden; jeder Lump glaubte sich berechtigt, mit Fingern auf ihn zu zeigen; jeder Ehrenmann würde das Recht, das volle Recht haben, ihm zu sagen: Bleiben Sie mir vom Leibe, Herr; ich kann nichts gemein haben mit einem Mann, der sich vor Gericht hinstellen und klagend gegen seine Frau auftreten konnte: sie ist mir untreu geworden, sie hat die Ehe gebrochen, sie wurde die Buhlin eines andern. Denn vergessen Sie nicht, meine liebe arme Frau, Sie können nicht sich selbst anklagen; Ihr Mann müsste gegen Sie klagen und in der Klage alles anführen, was Ihre Schuld ausmacht. Können Sie wollen, dass er das soll?«

      Die Frau schwieg.

      »Also nein, und es bliebe nur der dritte Weg, den Ihr Mann Ihnen vorschlägt, über den ich mit Ihnen unterhandeln soll. Ihr Mann müsste für den schuldigen Teil erklärt werden und Sie müssten die Klage gegen ihn anstellen und in der Klage die Scheidungsgründe gegen ihn, seine Schuld angeben. Da hätten wir mancherlei Gründe und mancherlei Schuld. Zuerst, er hätte Sie misshandelt, geschlagen ——«

      Die Frau unterbrach den Domherrn.

      »O«, rief sie, »er war die Güte, die Nachsicht, die liebevollste Aufmerksamkeit selbst gegen mich. Nie kam gegen mich ein unfreundliches oder auch nur ungeduldiges Wort über seine Lippen.«

      »Also der Grund wäre nichts?«

      »Niemals!«

      »Wir hätten einen andern: er hätte Sie böslich verlassen und ohne für Ihren Unterhalt zu sorgen.«

      »Er zog ja für das Vaterland aus; ich hatte seinen ganzen Gehalt. Ich verließ ihn dann.«

      »Also auch das wäre nichts. Schlimme Krankheiten hat er auch nicht; im Zuchthause hat er nicht gesessen. Da weiß ich nur noch eins: Untreue von seiner Seite.«

      »Soll ich mich selbst, soll ich mich ganz und gar vernichten?« rief die Frau.

      »Nein«, sagte der Domherr. »Aber dann bliebe nur der bestehende Zustand, und — ach, arme Frau, armer Mann, ist er nicht der entsetzlichste von allen, weil er der Zustand der ewigen Hoffnung und doch der ewigen Hoffnungslosigkeit ist? Aber nein! Eine ewige Hoffnungslosigkeit gibt es nicht für den Menschen. Die christliche, die eigentlich menschliche Religion kennt sie nicht. Musste das Altertum, auch noch so klassisch, seinen Tantalus mit seinen ewigen Durstesqualen aufstellen, in unserm Glaubensbekenntnisse steht neben dem Glauben und der Liebe die Hoffnung, und die drei sind unzertrennlich und sind ewig. Und auch Ihr Glaube und Ihre Liebe sollen von der Hoffnung sich nicht trennen. Wie es anders werden könne, fragt Ihr Blick mich. Ich weiß es nicht! Aber der liebe Gott wird es wissen, der die Welt nach andern Gesetzen regiert als nach dem preußischen allgemeinen Landrecht. Als Magd, als Sklavin dürfen Sie zu Ihrem Manne nicht zurück. Aber der Himmel kann eine große Erhebung über Sie schicken. Durch jene eine Schwäche ist Ihr Herz stark geworden, es hat seine Stärke bisher nur im Leiden und Dulden beweisen können; es können auch Taten an Sie herantreten. Erhalten Sie sich jetzt den Mut und die Kraft zum ferneren Tragen; es werden Ihnen dann, wenn die Zeit kommt, auch Mut und Kraft zum Handeln nicht fehlen. Und nun kommen Sie. Gehen Sie doch mit mir zu den andern. Es ist in so vielfacher Weise nicht gut, dass der Mensch allein sei. Man wird nur etwas durch das Leben, und das Leben ist die Gemeinschaft.«

      Der