Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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dass Beverly allein vom Hinsehen schon Kopfschmerzen bekam. Durch die jahrelange Tortur lag der Haaransatz so weit zurück, dass es aussah, als habe Victoria St. Williams eine Stirnglatze. Sie musterte die Ankömmlinge geringschätzig, und ihre kalten bleichen Augen verkündeten offene Feindseligkeit.

      „Ich gehe davon aus, dass Sie keinen Tee möchten“, stellte sie mit harter, emotionsloser Stimme fest. „Ich bin es nicht gewohnt, Leute von der Straße zu empfangen, die sich in desolatem Zustand befinden. Sie riechen nach Alkohol, junger Mann. Es ist eine Schande“, und sie wandte sich an Beverly, „dass Sie es wagen, mit locker gebundenen Haaren hier zu erscheinen. Ich ertrage diesen Verfall der Sitten nicht. Was wollen Sie hier?“

      „Wir sind von Scotland Yard und müssen Ihnen einige Fragen stellen“, begann Beverly ruhig, aber schon jetzt mit dem unguten Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen.

      „Ich habe Sie nicht hierher gebeten.“

      „Wir arbeiten an einem schwierigen Fall. Wir brauchen ihre Hilfe, Mrs. St. Williams.“

      „Ich habe mit solchen Dingen nichts zu schaffen. Mein ganzes Leben habe ich mich für die Wahrung von Zucht und Ordnung eingesetzt. Ich möchte nichts mit Ihnen zu tun haben. Bitte, gehen Sie jetzt.“

      „Ich habe einige Fragen zu Ihrem Sohn.“ Beverly bemühte sich gelassen zu bleiben, ihre Stimme klang ruhig, die Antwort der alten Dame harsch.

      „Wie können Sie es wagen! Ich habe keinen Sohn.“

      „Mrs. St. Williams, wir wissen, dass Sie einen Sohn haben“, erwiderte sie eindringlich.

      „Woher können Sie das wissen? Es ist ungeheuerlich. Sie ahnen nicht im Geringsten, wie es ist, Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten, das undankbare Personal zu führen, das sich auf Kosten der besseren Gesellschaft ernährt, und einem Kind Disziplin und Anstand beizubringen! Ja, all das habe ich geschafft, weil ich immer unnachgiebig und hart war. Auch zu mir selbst. Habe ich je Dankbarkeit für meine Aufopferung bekommen? Nein, aber alle leben sie von meiner Großzügigkeit.“

      „Was ist mit Ihrem Sohn, Mrs. St. Williams? Es ist wichtig für uns“, versuchte Beverly einen weiteren Anlauf.

      „Er ist mit siebzehn Jahren gestorben. Gehen Sie jetzt!“ Ihre Augen schienen aus den knochigen Höhlen hervorzutreten, eine dicke blaue Ader pulsierte an ihrer blassen Schläfe. „Gehen Sie, auf der Stelle.“

      „Woran ist er denn gestorben“, säuselte Miller, „an Zucht und Ordnung?“

      Hank! Das durfte jetzt nicht wahr sein. Beverly warf ihm einen wütenden Blick zu und sah an Victorias Gesicht, dass sie die Situation nicht mehr retten konnte. So ein dämlicher Schwachkopf.

      Mrs. St. Williams Augen waren glasig geweitet, sie begann in einer Lautstärke zu kreischen, dass Beverly glaubte, ihr würde das Trommelfell platzen. „Wie können Sie es wagen, meine Bestrebungen so in den Schmutz zu ziehen. Gehen Sie, sofort. ...“ Sie stützte sich mit ihren hageren Händen auf der Sessellehne ab, ganz so, als wolle sie aufstehen, um die Fremden aus ihrem Haus zu jagen. Trotz ihrer dürren Gestalt wirkte sie bedrohlich. „Selbstzügelung hätte man Ihnen beibringen sollen. Sie werden für Ihr Benehmen zur Rechenschaft gezogen. ... Anstand, ich verlange Sitte und Anstand. Wagen Sie es nie wieder, hier zu erscheinen!“

       Als sie die Tür hinter sich schlossen, schrie Victoria St. Williams noch immer in unverminderter Lautstärke. Die Worte Ordnung und Anstand verfolgten Beverly und Hank Miller bis in die Eingangshalle.

      „Ganz fantastisch“, frotzelte Miller, „und was soll diese alte Hexe mit unserem Fall zu tun haben?“

      Maria Clement begleitete sie zur Tür. „Sie ist oft sehr aufbrausend“, murmelte sie entschuldigend. „Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?“

      „Ehrlich gesagt, hat uns die alte Schachtel einen Hörschaden verpasst“, Miller hob seinen Zeigefinger und pulte demonstrativ in seinem Ohr.

      „Nein“, antwortete Beverly bedauernd, „wir sind leider nicht weitergekommen. Aber wenn ihr Sohn verstorben ist, löst sich unsere Spur ohnehin in Nichts auf.“

      „Ja, sie erzählt jedem, dass er tot ist, aber das stimmt nicht. Er ist mit siebzehn von zu Hause weggelaufen. Ich will Ihnen gern helfen, aber ich kann hier nicht darüber reden. ... Kann ich Sie heute Abend irgendwo treffen?“

      „Maria“, kreischte die Stimme von der Balustrade herab. „Kommen Sie auf der Stelle hierher und setzen Sie endlich diesen Abschaum auf die Straße!“

      Miller raste die kurvige Straße zurück auf die Kapelle zu, während Beverly sich Victoria St. Williams gemeinsam mit ihm auf einer einsamen Insel vorstellte.

      „Die dicke Tratschtante will sich doch auch nur wichtig machen. Ich glaube nicht, dass da irgendwas herauskommt, außer dass wir noch eine Nacht in diesem Billighotel verbringen müssen. Die haben nicht mal einen wirklich guten Whisky. Alte Plörre, sag ich dir. Wir sollten zurück nach London fahren.“ Miller steckte sich einen Zigarillo an.

      „Ich halte Maria Clement nicht für eine Tratsche. Hast du nicht gesehen, wie eingeschüchtert sie aussah, als die St. Williams dort oben stand? Ich werde auf jeden Fall heute Abend mit ihr sprechen.“

      „Wir vergeuden unsere Zeit, Evans. Der Mörder läuft in London rum. Wir sollten besser dort ermitteln, als uns hier mit alten verrotteten Tanten und halbgaren Gerüchten zu befassen.“

      Beverly, das ist jetzt der ideale Augenblick, um ihn loszuwerden. „Du kannst ja schon zurückfahren und in London auf Mörderjagd gehen.“ Ja, fahr bloß weg, du Idiot. „Ich mache die Sache mit Miss Clement allein. Ich könnte mit Sands und Henderson zurückfahren“, erwähnte sie wie beiläufig. „Sands würde mich sicher hier abholen. Bis Birmingham sind es doch nur ein paar Minuten.“

      Miller hatte tatsächlich gepackt und war nach London aufgebrochen. Beverly hatte mit Sands telefoniert; es tat gut seine sanfte, ruhige Stimme zu hören. Sie würden morgen gemeinsam in den Yard zurückkehren, und sie konnte nicht leugnen, dass sie sich auf ihn freute. Es blieb ihr noch etwas Zeit bis zu ihrem Treffen mit Maria. Sie schlenderte durch die kleine Stadt, versuchte währenddessen an nichts mehr zu denken. Nicht an den Fall, nicht an Edward und Miller und auch nicht an Harold Sands. Dieser Spaziergang an der kühlen Luft gehörte ihr ganz allein.

      Maria Clement betrat das Hotel wie eine Geheimagentin. Sie hatte ihren Mantelkragen hochgeschlagen und schaute sich um, bevor sie zu Beverly an den Tisch kam. Sie war sich offenbar bewusst, dass das, was sie jetzt tat, in Mrs. St. Williams Augen ungeheuerlich sein musste. Beverly bestellte zwei Kännchen Tee.

      „Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen. So etwas wie hier mache ich heute zum ersten Mal, und es geht mir nicht besonders gut dabei. Ich war immer loyal, aber wenn es um Mord geht...“, sie stockte, „deswegen sind Sie doch hier, Miss Evans? Wegen der Morde in London?“

      Beverly lächelte. „Ja, das ist richtig. Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass es eine Verbindung zur Familie St. Williams geben könnte.“

      „Das war sicher Dr. Bunting. Er ist schon seit dreißig Jahren der Hausarzt der Familie. Wir haben gestern telefoniert und haben über den neuen Fall gesprochen.“ Maria schluckte, mit ihren kurzen Fingern knetete sie den Tischtuchzipfel. „Als wir von dem ersten Mord in der Zeitung erfuhren, haben wir auch telefoniert. Jeder von uns hat gleich an Timothy gedacht. Das ist Mrs. St. Williams Sohn. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass er damit etwas zu tun haben könnte.“ Sie schaute die junge Polizistin hilfesuchend an. „Nach so langer Zeit. Darum haben wir geschwiegen“, fügte sie hinzu.

      „Warum haben Sie an Timothy gedacht? Was hat er getan?“ Maria atmete heftig ein und seufzte. Anscheinend wusste sie nicht, wie oder womit sie beginnen sollte.

      „Trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee, Miss Clement. Ich habe Zeit.“

      Marias Hände zitterten, als sie die Tasse zum Mund führte.