Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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soll ich beginnen?“, fragte Miss Clement gedämpft.

      „Erzählen Sie einfach alles, was Ihnen wichtig erscheint.“

      Sie stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch zurück. „Timothy war wirklich ein wunderbares Kind, das sollten Sie wissen. Alles, was er getan hat, vielleicht auch diese Morde … er hat es getan, weil er eine grauenhafte Kindheit hatte. Als ich im Hause St. Williams meine Stelle als Zimmermädchen antrat, war ich sechzehn Jahre alt. Meine Eltern waren arm, deshalb war ich froh, ein Auskommen gefunden zu haben. Ich wohnte unterm Dach in einer kleinen Kammer und arbeitete wirklich hart. In diesem Jahr wurde Timothy geboren. Das war 1946. Zwei Jahre später starb Richard St. Williams bei einem Reitunfall. Seit dem Tage war alles anders. Timothy hatte keinen Vater mehr und Mrs. St. Williams keinen Mann. Sie ließ das Pferd töten. Sie trauerte nicht. Sie war schon vor diesem entsetzlichen Unfall eine Frau gewesen, die keinerlei Gefühlsregungen zeigte.“ Maria griff wieder zu ihrer Tasse. „Sie steigerte ihre Ideen von Selbstdisziplin, Ordnung, Sitte und Anstand ins Unermessliche. Es schien nichts anderes mehr in ihrem Leben zu geben. Genau das machte Timothys Kindheit zu einem Martyrium. Er besaß keine Spielsachen, er hat den Grund und Boden seiner Familie siebzehn Jahre lang nicht verlassen, und er hat niemals ein anderes Kind zu Gesicht bekommen. Stellen Sie sich das vor!“ Beverly stellte es sich vor, der Gedanke hinterließ einen dumpfen Schmerz.

      „Er war noch nicht einmal vier Jahre, da zwang sie ihn zum Klavierunterricht. Der Musiklehrer kam täglich für zwei Stunden ins Haus, außer sonntags. Sonntags musste Timothy ihr vorspielen. Als er fünf wurde, engagierte sie zwei Hauslehrer, die ihn täglich sechs Stunden unterrichteten; Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen, na, eben alles.“ Maria begann wieder, den Zipfel des Tischtuches zu kneten. „Sie fragen sich sicher, warum das Personal nichts dazu gesagt hat.“

      Beverly lächelte matt. „Sie hatten Angst, ihre Anstellung zu verlieren, nehme ich an.“

      „Ich war ledig, ich hätte weder Wohnung noch Arbeit gehabt. Ich wäre auf der Straße gelandet. Das hätte dem Jungen nicht geholfen. Genauso ging es den anderen Bediensteten. Victoria St. Williams hatte alle und alles in der Hand.“ Miss Clements Blick wanderte auf ihre Hände hinab. „Manchmal haben wir ihm heimlich Kekse gegeben oder ihm über den Kopf gestreichelt.“ Maria schaute plötzlich auf, als sei ihr etwas Furchtbares ins Gedächtnis gekommen. „Sie hat das nie getan. Können Sie sich vorstellen, dass es eine Mutter gibt, die ihr Kind nicht in den Arm nimmt, nicht auf den Schoß, ihm nicht durch die Haare streicht? Sie hat ihn nicht angefasst, ich hab es jedenfalls nie gesehen.“ Sie schenkte sich Tee nach und gab Zucker hinein. Während sie rührte, schien sie völlig gedankenverloren.

      „Was geschah dann mit dem Jungen?“

      Maria räusperte sich. „Timothy wurde morgens immer vor sechs Uhr vom Kindermädchen, geweckt. Sie ondulierte ihm jeden Morgen die Haare, damit er hübsch aussah. Victoria St. Williams wollte einen Jungen mit goldenen Locken.“ Maria Clement sah sich um, bevor sie fortfuhr. „Danach wurde gefrühstückt, anschließend war Unterricht, dann folgten Mittagessen und wieder Unterricht. Dann gab es Tee, worauf die Klavierstunden folgten. Bei gutem Wetter durfte Timothy dann ein paar Minuten auf der Terrasse auf und ab gehen. Schließlich paukte seine Mutter ihm Benimmregeln ein, dann gab es Abendbrot, und er ging zu Bett. Tag für Tag, Monat für Monat …“

      „ …und Jahr für Jahr“, ergänzte Beverly.

      Maria standen Tränen in den Augen, als sie fortfuhr: „Timothy konnte sich nicht bewegen, ohne etwas falsch zu machen, dauernd schrie sie ihn an. Sie schrie, wenn er einen Fussel auf der Hose hatte, wenn seine Nase lief, wenn er sich am Klavier verspielte oder wenn er x-beinig vor ihr stand. Sie schrie, wenn er eine Minute zu spät oder eine Minute zu früh in den Salon kam. Sie schrie, wenn er zu viel oder zu wenig aß. Und der Maßstab dieses ganzen Wahnsinns war immer sie selbst. Sie schrie sogar, wenn er weinte, und sie schrie auch, wenn er krank war. Sie erwartete von ihm, dass er sich zusammenriss. Sie haben ja gehört, wie es ist, wenn sie wütend ist.“

      Beverly spürte wie ihre Kehle enger wurde. „Ja, das habe ich“, sagte sie heiser. „Unfassbar, wie ein Kind solche Tiraden ertragen kann.“

      Sie schwiegen. Beverly spürte, wie die Wut auf diese kaltherzige Person übermächtig in ihr aufstieg. Was sich vor Jahren in diesem Haus abgespielt hatte, war Kindesmisshandlung, es war seelische Grausamkeit in schlimmster Form.

      „Als Timothy sieben Jahre alt war, kündigte der Klavierlehrer seine Arbeit. Er hatte genug von den Launen der Hausherrin, und ich denke, seine Existenz war auch ohne den Unterricht im Hause St. Williams gesichert. Der Junge bekam jetzt Unterricht bei Maggie Hunter. Von diesem Tag an liebte er das Klavierspielen, ich glaube, weil er Maggie liebte. Sie war eine fantastische, warmherzige Frau. Sie kümmerte sich rührend um das Kind. Sie ließ sich von Mrs. St. Williams nicht einschüchtern. Ich glaube, dass sie nur deshalb nicht entlassen wurde, weil Timothy unter ihrer Anleitung fantastische Fortschritte machte.“ Miss Clement rückte ihre Brille zurecht.

      Beverly bestellte zwei weitere Kännchen Tee und wandte sich wieder der Hausdame zu.

      „Es war natürlich auch für Maggie Hunter nicht leicht, trotzdem blieb sie fast zehn Jahre. Dann wurde Maggies Schwester schwer krank, und sie zog zu ihr nach Coventry, um sie zu pflegen. Es war eine Katastrophe für den Jungen. Es vergingen noch einige Wochen, dann geschah das Unglück.“

      Maria strich den Zipfel, den sie zuvor zerknüllt hatte, ein wenig glatt. Unsicher wanderte ihr Blick zum Ober, der den Tee brachte, dann wieder zu der jungen rothaarigen Frau von Scotland Yard. Das Unvermeidliche wartete jetzt darauf, ausgesprochen zu werden.

      „Ich habe es bisher nur einem Menschen erzählt, Dr. Bunting. ... Es war ein regnerischer Sonntag damals. Seit Maggie Hunters Abschied war Timothy in schlechter Verfassung. An diesem Tag sollte er pünktlich zum Vorspielen im Salon sein, aber er hatte in seinem Zimmer geweint. Als er vor sie trat, muss es Mrs. St. Williams gleich aufgefallen sein. Seine Augen waren noch gerötet und ein wenig geschwollen. Solche Schwachheiten brachten sie zur Weißglut. Es war nicht anders zu erwarten, wir wussten, dass keine zehn Sekunden vergehen würden, bevor es losging. Und so war es auch. ... Sie kreischte wie eine Furie, es erschien uns an diesem Tag besonders schlimm. Sie hörte nicht mehr auf. Sie schrie und schrie. Dann hörten wir plötzlich ein Poltern. Danach war es still. Es blieb auch still.“ Maria atmete schwer. „ ... Ich bin dann mit Gregory, er war damals Hausmeister, hinaufgegangen. Da haben wir es dann gesehen. Sie lag am Boden und mit ihr die Stickerei an der sie arbeitete. Timothy hatte sich über sie gebeugt. Ihr Gesicht war voller Blut, auch seine Hände. Als er uns sah, sprang er auf und lief an uns vorbei, heraus aus dem Salon. Es war das letzte Mal, das ich Timothy St. Williams gesehen habe.“

      „Was hat er mit ihr gemacht?“ Beverly wusste schon jetzt, welche Antwort sie bekommen würde, doch sie wollte es von Maria selbst hören. Sie brauchte die Aussage einer Zeugin.

      „Er hat ihr mit der Sticknadel den Mund zugenäht.“ Maria hielt sich den Mund zu, als könne sie das Ungeheuerliche, dass sie gerade ausgesprochen hatte dadurch rückgängig machen. Doch Beverly ließ sie nicht aufatmen, ... noch nicht.

      „Wie hat er es getan Miss Clement?“

      Sie zögerte einen Moment, seufzte schwer. „Er hat den Faden einmal durch die Lippen gezogen und versucht ihn zuzuknoten.“ „Versucht?“

      „Das Stickbild hing daran. Der Faden war schon sehr kurz. Er konnte ihn nicht verknoten. ... Gregory hat den Faden herausgezogen, weil Mrs. St. Williams nicht wollte, dass wir Dr. Bunting verständigten. Da hat er es getan. Er hat ihn herausgezogen.“

      Maria schwieg einen Moment, so als wolle sie sich sammeln. „Etwa zehn Tage später kam Dr. Bunting wegen einer Lungenentzündung zu Victoria St. Williams. Sie weigerte sich zu erzählen, woher sie die seltsamen Narben hatte. Sie erklärte ihm auch nicht, wo der Junge geblieben war.“ Maria wärmte ihre weichen, fleischigen Hände an der Teekanne. „Dann hab ich es ihm erzählt.“

      „Sie wissen nicht, was aus Timothy geworden ist?“ „Ich hatte noch Briefkontakt zu Maggie Hunter. Etwa zwei Jahre nach Timothys Verschwinden