Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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die Vormundschaft führte, aber er ist bereits verstorben. Er muss schon damals nicht mehr der Jüngste gewesen sein. Ich war dann in Birmingham in der Jugendbehörde, um etwas über diese Pflegefamilie herauszufinden“, ergänzte Patricia. „Die stöbern jetzt in ihrem riesigen Archiv. Ich hoffe, dass wir den Namen dieser Familie bald auf dem Schreibtisch haben.“

      „So“, Allister Whitefield erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, er schlurfte ans Fenster. „Wir fassen zusammen. ... Timothy St. Williams könnte der Täter sein. Er hat Zwischenstation in Birmingham gemacht, Carla Harwood getötet und lebt jetzt in London, wo er 1989 die zweite Tat verübte, an Laurie Hardin. Warum hat er von 1966 bis 1988 nicht gemordet? … Oder hat er doch? … Gibt es uns unbekannte Fälle? Und wenn er jahrelang nicht getötet hat, warum? … War er vielleicht schon aus dem Verkehr gezogen? Knast oder Anstalt?“ Whitefield räusperte sich, hustete dann heiser. „Ebenso gut könnte der Sohn der Familie Harwood, zweiunddreißig müsste er jetzt sein, die Tat begangen haben. Haben dann Birmingham und West Bromwich noch miteinander zu tun? Daniel Harwood sieht, wie seine Mutter stirbt. Nicht gerade ein Anblick für ein Kind. Der Vater erhängt sich. Kann ein Kind damit fertig werden?“

      „Das würde erklären, warum lange Jahre nichts geschehen ist“, warf Stanton ein, „Harwoods Sohn war noch ein Kind. Vielleicht hat er auch als Erwachsener noch gegen die Erlebnisse angekämpft und letztendlich doch die Kontrolle über sich verloren. Vielleicht hat er tatsächlich damals den Tod seiner Mutter mit angesehen und muss alles zwanghaft wiederholen.“

      „Wir müssen sie beide finden, Timothy St. Williams und Daniel Harwood, … beide, ist das klar?“, schloss Superintendent Allister Whitefield und alle, die sich in dem engen, verrauchten Büro aufhielten, schienen sich schon innerlich mit dem nächsten Schritt zu beschäftigen.

      „Nichts, wieder nichts“, jammerte Henderson und legte den Hörer auf. „Es scheint fast so, als wären alle Unterlagen über Daniel Harwoods Pflegefamilie absichtlich beiseite geschafft worden. Warum gibt es nirgendwo einen Eintrag? Wie soll ich so irgendwas herausfinden, Bev?“

      Die beiden Frauen belagerten das chaotische Büro, Stanton hatte, nachdem er keine Chance gesehen hatte, irgendein Telefonat dazwischenzuschieben, die Flucht ergriffen. Beverly bemerkte erst jetzt, während sie aus dem Aktenberg aufsah, dass er fort war. Sie goss Patricia Tee nach und schob den Zucker zwischen den Stapeln aus Papier und Akten hindurch über den Schreibtisch. „Vielleicht wollten sie den Jungen und sich vor der Öffentlichkeit schützen“, sinnierte sie und füllte ihre eigene Tasse. „Vielleicht hat die Pflegefamilie das Kind nur unter der Bedingung aufgenommen, dass niemand davon erfährt … bei der Vorgeschichte.“

      „Es muss aber doch was Offizielles geben.“

      „Versuch’s hier in London bei Gericht, Pat. Such nach einem Eintrag über den zweiten Vormund.“ Patricia wühlte im Karteikasten nach der Nummer.

      Beverly seufzte, denn auch die Spur in Coventry löste sich langsam in Nichts auf. Maggie Hunter war 1982 im Krankenhaus nach einem Schlaganfall verstorben. Sie hatte ihr kleines Haus einer entfernten Verwandten vermacht, die jedoch nicht ausfindig gemacht werden konnte. Ein Timothy St. Williams war nie in Coventry gemeldet gewesen, weder unter Maggies Adresse noch sonst wo. Es gab auch keinen Eintrag in Birmingham. Selbst in London gab es niemanden, der Timothy St. Williams hieß und etwa fünfundvierzig Jahre zählte. Im Gedränge zwischen Tausenden von Autos kreisten Beverlys Gedanken, aber sie kam zu keinem Ergebnis. Wie lange hatte Timothy St. Williams bei Maggie Hunter gewohnt? War es nur ein kurzes Gastspiel gewesen oder lebte er bis zu ihrem Tod in dem Haus in Coventry? Wann und wo gab es ein letztes Lebenszeichen von ihm? Vielleicht lebte er unter falschem Namen irgendwo in der Anonymität einer größeren Stadt, wahrscheinlich in London, wenn er der Täter war. Es war illusorisch, ihn unter diesen Umständen jemals aufspüren zu können. Beverlys Wagen machte einen Ruck und hustete wie jemand, der eine schwere Bronchitis verschleppt hatte. Morgen früh, gleich morgen früh rufst du in der Werkstatt an.

      Samstag, 9. März

      Gütiger Himmel! Der Blick auf die Uhr zwang Beverly, den Tag im Zeitraffer zu starten. Sie hatte verschlafen, ihr Kopf hämmerte. Sie steckte ihr Haar hoch, hetzte unter die Dusche und ärgerte sich. Es war ihr am Vorabend schwer gefallen einfach abzuschalten. Sie hatte sich bis weit nach Mitternacht von Musik und Rotwein einlullen lassen, bevor sie in ihr Bett gekrochen war. Jetzt bekam sie die Quittung. Das Schlafzimmer sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Sie griff die nächstbesten Jeans und einen schwarzen Pulli und spülte eine Kopfschmerztablette mit etwas Orangensaft hinunter. Das Frühstück musste ausfallen. Unwillkürlich kam ihr Miller in den Sinn.

      Als Beverly den Yard betrat, war sie beinahe fünfzehn Minuten zu spät. Sie fuhr mit dem Aufzug hinauf, hastete den Korridor entlang, und stürmte ohne zu klopfen in Whitefields Büro, wo sie direkt an der Tür mit dem attraktivsten Mann zusammenstieß, der ihr seit Sands begegnet war. „Tut...mir...leid“, stammelte sie, und wich dem Blick seiner tiefblauen Augen aus.

       „Ich werde es überleben“, antwortete er scheinbar ungerührt.

       Beverlys Magen schien mit einer Kanne viel zu heißen Tees gefüllt.

      „Habt ihr schon angefangen?“, versuchte sie wie beiläufig zu klingen. Sie setzte sich auf einen der freien Stühle und bemühte sich, locker zu wirken. Sands hatte sofort bemerkt, was in ihr vorging. Sie konnte es ihm ansehen, während er mit völlig gelassener Miene ihren Blick taxierte. Dir entgeht wohl gar nichts. Sie warf einen finsteren Blick zurück, und er lächelte.

      „Endlich … wir können weitermachen“, raunzte Whitefield.

      „Das ist Daniel Fleming, Psychologe. Vertretung für Victor Watermann.“ Allister rückte seinen Stuhl zurecht und ließ sein altbekanntes Räuspern hören. „Fleming arbeitet seit 1987 am Institut für Verhaltensforschung … forensische Psychologie, sie wissen schon.“ Er schaute kurz in die Runde und hob dann wieder an. „Fleming, Sie können Ihren Marsch durch die verschiedenen Bereiche antreten. Stanton, zeigen Sie ihm alles … aber zügig. Wenn Sie durch sind, wird Sergeant Evans Ihnen ein paar Takte zu unserem Fall sagen.“

      Beverly sah den Neuling an. Tja, Evans. Hättest du das nur vorher gewusst. Dann wärst du hier nicht wie ein Altkleiderständer aufgelaufen.

      „Schwul“, raunte Miller nachdem Fleming das Büro verlassen hatte.

      „Unsere Ermittlungen stecken fest. Die Spuren der Tatverdächtigen …“ Whitefield runzelte die Stirn; mit der rechten Hand hob er eine Mappe vom Tisch auf. „St. Williams scheint untergetaucht zu sein. Na ja, vielleicht unter anderem Namen. Dieser Daniel Harwood … ich denke mal, dass die Behörden ihn geschützt haben … damit er Ruhe hat. Damit die Pflegefamilie nicht belästigt wird. Sie wissen schon.“ Whitefield wirkte abgearbeitet, sein graues Haar war im Neonlicht beinahe weiß. Seine Wangen hingen schlaff herab, die Falten um seinen Mund schienen sich in den letzten Tagen noch tiefer eingegraben zu haben. Zwei ungelöste Fälle und die Tatsache, dass es vor zwanzig Monaten einen riesigen Pressetumult gegeben hatte, das musste wie ein Felsbrocken auf ihm lasten. „Ich will Informationen über jedes wichtige Detail, und das sofort. Und ich will Ergebnisse, verdammt noch mal.“ Alle im Raum sahen den Superintendent an. Es war eindeutig, dass er Druck von oben bekommen hatte und unschwer zu erkennen, dass er ihn jetzt ungefiltert an das Ermittlerteam weitergab. B

      everly seufzte leise. Was sonst sollte er auch tun? Sie waren, von Miller vielleicht abgesehen, alle motiviert an diesen Fall herangegangen, aber der Stillstand zehrte an den Reserven.

      „Ran jetzt“, hob Whitefield ein letztes Mal an.

      Niemand sprach ein Wort, als sie sein Büro verließen.

      „Nun“, begann Daniel Fleming, „dann bringen Sie mich mal auf den neuesten Stand der Dinge.“ Der Psychologe hatte sich Beverly gegenüber hingesetzt; sie war fasziniert von seiner Ausstrahlung. Niemals vorher hatte sie solche Augen gesehen, strahlend aber dennoch voller Melancholie. Sein dunkelblondes Haar war kurz geschnitten