Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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beide Tatverdächtige erhalten bleiben.

      Während Beverly den langen Korridor im Bogen entlang schritt, fiel ihr auf, wie belebt er inzwischen war. Es war fast zehn, und selbst die Milchglastür wurde jetzt von einer Reihe von Leuten wie selbstverständlich passiert, auch wenn vielleicht für einige tatsächlich die Hölle dahinter lag. Beverly erreichte die Tür. Die sah von hinten genauso wenig vertrauenerweckend aus, wie sie es von vorn getan hatte. Sie drückte sie auf und warf einen Blick auf die Wartenden. Die Dame mit der Turmfrisur saß nicht mehr dort, dafür aber ein junger Mann mit wilden Locken und eine ältere Dame in einem Tweed-Kostüm. Die junge blonde Frau war nicht mehr allein. Ein Mann hatte sich vor ihren Rollstuhl gehockt. Seine Hände lagen in ihrem Schoß und ihre Hände lagen in den seinen. Sie sprachen leise miteinander. Beverly mischte sich in eine Gruppe von Vorbeikommenden, als sie ihn erkannte. Sie wollte auf keinen Fall, dass er sie sah. Sie strömte im Schutz der fremden Menschen den Korridor entlang, blieb an der Abzweigung stehen und schaute sich völlig entgeistert um. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was sie da eben gesehen hatte. Sie fühlte sich wie jemand, der zufällig Zeuge von etwas Verbotenem geworden war. Wie von unsichtbarer Hand geschoben, wandte sie sich wieder ab und ging in Richtung Parkhaus.

      Whitefield war von den Neuigkeiten über Helen Fuller nicht gerade angetan. Seufzend sackte er in seinem Stuhl zurück. Beverly bemerkte, wie ausgelaugt er war, der Druck von oben, die Presse, die schleppend verlaufenden Ermittlungen und nicht zuletzt seine angeschlagene Gesundheit machten ihm zu schaffen. Jeder wusste, dass Whitefield spätestens in zwei Jahren aus Alters- und Gesundheitsgründen seinen Hut nehmen würde; es war schon jetzt ein offenes Geheimnis, dass Sands als sein möglicher Nachfolger gehandelt wurde. Beverly stand auf und ging zur Tür. „Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten hatte.“

      Whitefield winkte ab. Beverly hielt im Türrahmen inne und sah ihn an. Im Licht der Neonröhren wirkte sein Haar eher weiß als grau, es lagen tiefe Schatten unter seinen Augen.

      „Darf ich Sie was fragen?“

      Er griff nach einem Stapel Blätter. „Was?“, knurrte er.

      „Sands’ Frau … warum sitzt sie im Rollstuhl?“

      Er legte die Blätter wieder hin. „Geht Sie das was an, Evans?“

      „Ich habe die beiden heute zufällig in der Klinik gesehen.“

      Whitefield schaute sie an. Der Ausdruck seines geröteten Gesichts entspannte sich ein wenig.

      Er weiß verdammt noch mal genau dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die jede Neuigkeit wie einen Virus im kompletten Dienstgebäude verbreiten.

      „Sie hat MS.“ Superintendent Allister Whitefield wandte sich wieder seinen Unterlagen zu, und Beverly nahm die Antwort als Beweis seines Vertrauens. Sie schloss leise die Tür, machte sich auf den Weg in die Verwaltung. Jetzt verstand sie Sands Verhalten. Jetzt verstand sie, warum er bei der Befragung in Miss Boyles ärmlichem Wohnzimmer so plötzlich gegangen war. Doris hatte ihn mit ihren Ausführungen über Julia Hunter eiskalt erwischt. Beverly atmete hörbar aus. Multiple Sklerose.

      Unklare Ursache, unvorhersagbarer Verlauf, unheilbar. Beverly wusste, dass diese Krankheit bei einer Vielzahl der Betroffenen gutartig war. Doch wenn man schon mit knapp über dreißig an einen Rollstuhl gefesselt war, brauchte man sich über die Art des Verlaufs keine Illusionen mehr zu machen.

      Warum ausgerechnet seine Frau?

      Biete Klavierunterricht gegen Kost und Logis. Beverlys Augen brannten, sie wünschte diesen Satz endlich in einer der Zeitungen zu finden. Seit sie Sands und seine Frau in der Klinik gesehen hatte, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Während der letzten Stunden, in denen sie vor ihrem Stapel Annoncen gehockt hatte, war ihre Aufmerksamkeit auf unterstes Niveau gesackt. Die ganze Sucherei hatte nichts gebracht und zu allem Überfluss hatten die Kopfschmerzen sich zurückgemeldet. Sie ging in die Teeküche, um sich einen Kaffee zu holen. Evans, du bist super drauf, wenn dir St. Williams hier im Flur entgegenkommen würde, du würdest ihn nicht einmal erkennen. Geh nach Hause, leg dich ins Bett und mach die Augen zu.

      Küchenchaos und kein Kaffee in Sicht. Sie füllte Pulver und Wasser in die Maschine und drückte den Schalter. Sie nahm ein Glas, das sie mit Wasser füllte. Fleming kam mit einem Tablett voller Tassen in die Küche, während Beverly zwei Schmerztabletten mit ein paar Schlucken herunterspülte.

      „Womit dröhnen Sie sich denn jetzt wieder zu, Evans?“ Typisch Psychologe. Er stellte das Tablett ab, und sie taxierte ihn.

      „Das ist doch wohl meine Sache. Hat Hays Sie jetzt zum Dienstmädchen degradiert, Fleming?“

      „Sehr witzig, Evans.“ Er dehnte das erste Wort. „Sie sehen schon wieder genauso fertig aus wie am Freitag.“

      „Danke, mir geht’s bestens.“

      „Dachte ich mir. ... Miss Abgebrüht macht solange ihren Dienst, bis sie wieder zusammenklappt.“

      „Das würde Ihnen sicher gefallen, dann können Sie mir wieder ungestraft an die Wäsche.“ Sie kniff die Augen zusammen. Er schwieg und ließ seinen Blick an ihrem Körper hinunter und wieder herauf wandern.

      „Das können Sie auch einfacher haben, Evans.“ Er zog eine Augenbraue hoch, drehte sich auf dem Absatz um und ging.

       Der Tag war gelaufen. Beverly meldete sich ab und fuhr mit dem festen Vorsatz nach Hause, sich sofort ins Bett zu legen.

      Dienstag, 19. März

      Die Luft im Büro war stickig. Beverly war ihrem Vorsatz gefolgt, hatte dann lange wachgelegen und anschließend wirr geträumt. Sie fühlte sich ausgeschlafen wie ein Faultier nach einem Marathonlauf. Sie versuchte Whitefields Ausführungen zu folgen, aber der Kampf gegen die Müdigkeit forderte ihre ganze Konzentration. Frau, du hast dein durchgeschütteltes Hirn nicht richtig auskuriert. Mach den Mund auf, sag’s dem netten Allister und geh wieder nach Hause. Durch ihre gesenkten Wimpern sah sie Stanton mit Miller diskutieren. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Sands und Henderson fehlten. Whitefield beendete die Sitzung, und sie schloss sich Bill und Hank auf dem Weg in den Korridor an. Miller sah sie breit grinsend an; Beverly ahnte sofort, dass er sich einen Kommentar nicht verkneifen würde.

      „Hey, Evans, zu viel Sex geht aufs Rückenmark.“

      Sie machte ein gleichgültiges Gesicht, nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie zu mehr nicht fähig war. „Dann wundert’s mich, dass du überhaupt noch laufen kannst, Miller.“ Sie ging mit Stanton ins Büro und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch.

      „Wo ist Sands?“, wollte sie wissen.

      Er schob eine Diskette in den Rechner und sah kurz auf. „Unten, im Schießstand. Ich hab’s mit Henderson inzwischen aufgeben. Die Frau macht mich wahnsinnig. Sie schießt, als hätte sie ’ne Gurke in der Hand.“

      Ähnlich wie Miller, dachte Beverly. Er schießt dem Huhn den Arsch weg, wenn er den Fuchs treffen will.Der Dauergenuss von hochprozentigem Zielwasser kann da auch nichts mehr ausrichten. Sie verließ das Büro und ging den Korridor entlang zum Aufzug. Der Schießstand lag im Untergeschoss, dort wo sich auch die Ballistikabteilung und die Asservatenkammer befanden. Sie sah durch die schalldichte Glasscheibe zu, wie Sands erklärte und Henderson ihn dabei anschmachtete. Sie setzten die Kopfhörer auf. Sie entsicherte die Waffe, legte an, er korrigierte die Stellung ihrer Arme. Sie drückte ab und traf nicht einmal die Scheibe. Während Beverly überlegte, ob sie Henderson bei den Schießübungen stören durfte, drehte Sands sich zu ihr um. Er musste gespürt haben, dass sie hinter der Abtrennung wartete. Er gab Patricia ein paar Anweisungen und verließ den Schießstand durch die Seitentür.

      „Wie macht sie sich?“, wollte Beverly wissen.

      „Ihre Fähigkeiten an der Waffe machen mir Sorgen.“ Schweigend blickten sie durch die Scheibe zu Henderson, die einen Schuss nach dem anderen neben die Zielscheibe