Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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war denn kürzlich mit meinem freien Tag? Ich dachte, wir hätten Urlaubssperre? Komisch, dass das für gewisse Leute nicht gilt.“ Miller verzog das Gesicht.

      Whitefield ging nicht darauf ein. „Die Zeitungen stapeln sich unten in der Verwaltung. Sie können sie da abholen. Ansonsten, alles nach Absprache.“

      Die Morgenbesprechung löste sich auf. Beverly ging ins Büro, um Helen Fuller anzurufen. Diesmal hatte sie Glück, der Hörer wurde abgenommen.

      „Sergeant Evans von Scotland Yard. Ich hätte gern Helen Fuller gesprochen.“

      „Das ist leider nicht möglich“, entgegnete eine verrauchte Stimme, „sie liegt mit einem Bänderriss in der Klinik. Soll ich ihr etwas ausrichten? ... Ich fahre heute zu ihr.“

      „Danke, aber in diesem Fall werde ich sie selbst besuchen.“

      Die Frau am anderen Ende der Leitung gab ihr den Namen der Klinik. Dann legten sie auf.

      Beverly packte das Foto in die Tasche, zog ihren Mantel an und schloss das Büro ab. Sie würde sofort ins Krankenhaus fahren, dann hatte sie’s hinter sich. Sie hasste diese bedrückende Atmosphäre, den Geruch nach Krankheit und Desinfektionsmitteln. Sie fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage, stieg in ihren Wagen und warf sich in den nie ruhenden Straßenkampf der Blechkarossen. Es begann zu nieseln, die Straße schimmerte feucht. Die Straßenbeleuchtung streute sich in der diesigen Luft, die Auspuffgase wurden sichtbar. Beverly erreichte die Klinik und zog eine Parkkarte. Sie steuerte den Wagen in eine derart schmale Lücke, dass sie Mühe hatte überhaupt auszusteigen. Sie folgte den Hinweisschildern bis zum Foyer des Krankenhauses und erkundigte sich an der Anmeldung nach Station und Zimmernummer. Chirurgische. Zimmer 1122. Sie folgte dem Wegweiser zu den Aufzügen, dann fuhr sie zwei Stockwerke nach unten. Nächstes Hinweisschild. Den Korridor entlang, eine Glastür, wieder geradeaus. Keine Schilder mehr. Unschlüssig schaute sie sich um und nahm den breiteren der beiden Flure. Sie verlangsamte ihr Tempo, um die Hinweisschilder nicht zu übersehen. Fast am Ende des Korridors standen zwei Bänke, einige Patienten saßen dort in der Warteschleife. Während sie langsam auf die Gruppe zuging, fiel ihr auf, wie unterschiedlich diese Menschen aussahen, die alle vor der gleichen Tür warteten.

       Ein älterer grauhaariger Mann mit zerschlissenen Hosen und einer Jacke aus den Sechzigern saß so dicht an der Kante der Bank, dass er heruntergefallen wäre, sobald er sich bewegt hätte. Er hielt eine Plastiktüte in der Hand, sein rechtes Bein zitterte unruhig. Sein Blick wirkte besorgt, ganz so, als würde er begreifen, dass die Bewegung seines Beines nicht mehr zu steuern war. Neben ihm saß, aufrecht wie eine Statuette, eine gepflegte ältere Dame in einem Kostüm; ihre Finger waren mit Ringen beladen. Ihr Haar war zu einer bombastischen Frisur aufgetürmt, ihr Mund leuchtete in Erdbeerrot. Sie hielt ihre Handtasche mit beiden Händen auf dem Schoß fest. Auf der anderen Bank saß ein Mann Mitte fünfzig mit graublonden Haaren, der einen Gehstock neben sich an die Bank gelehnt hatte. Er knibbelte nervös an seinen Fingernägeln. Eine Frau saß nicht auf dieser Bank, sondern daneben, in einem Rollstuhl und fesselte Beverlys Blick. Sie ist kaum älter als ich. Eine Mappe lag auf ihren Knien, wahrscheinlich medizinische Unterlagen. Der lange schlichte Rock reichte ihr bis an die Knöchel. Durch den naturfarbenen Häkelpulli mit seinem großen Lochmuster schimmerte das Oberteil, das sie in gleicher Farbe darunter trug. Ihr langes blondes Haar war im Nacken verschlungen und wurde von einem Seidentuch gehalten. Obwohl sie dezent geschminkt war, wirkte sie blass. Beverly fand, dass sie edel aussah und fragte sich, was eine so junge Frau in den Rollstuhl gebracht hatte.

      Während sie langsam an der Gruppe vorbeiging, spürte sie, dass ihr die Blicke der Anwesenden folgten. Sie erreichte eine unheimlich wirkende Milchglastür, aber es gab keine Schilder, keine Aufschrift, nichts. Sie musste irgendwo einen dieser Pfeile übersehen haben. Sie kehrte um, und während sie wieder auf die Bänke zuging, musterte sie unauffällig das Gesicht der gut aussehenden jungen Frau, ein fast perfektes Oval, helle, große Augen, eine schmale, schöne Nase und perfekt geschwungene Lippen. Sie schien Beverlys Blick bemerkt zu haben und sah sie mit einem Lächeln an. Ertappt! Was hatte ihre Mutter immer gepredigt, als sie noch ein Kind war? Sieh da nicht so hin. Man schaut solche Leute nicht einfach an. Das ist unhöflich! ... Beverly lächelte zurück.

      „Sie haben sich in diesem Irrgarten verfranst, stimmt’s?“, sagte die Frau im Rollstuhl.

      „Messerscharf erkannt“, erwiderte Beverly und ging auf sie zu.

      „Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“ „Ich suche die chirurgischen Stationen.“

      „Dann sind Sie auf der richtigen Spur.“

      Sie redet wie eine Polizistin.

      „Sie hätten nur durch diese hässliche Milchglastür gehen müssen.“ Ein amüsiertes Lächeln huschte über die Züge der blonden Frau.

      „Tatsächlich?“

      Sie lachte. „Ich habe auch mal vor dieser Tür gestanden, das schäbige Ding hinterlässt ein ungutes Gefühl. Ich habe mir damals vorgestellt die Hölle sei dahinter. Dabei geht dort nur der Korridor weiter, weiß der Himmel, warum sie das abgetrennt haben. … Also, einfach da durch, und irgendwann macht der Korridor einen großen Bogen.“ Sie beschrieb einen Bogen mit ihrem Arm, doch die Bewegung war unkoordiniert und fahrig. Ihr Ellenbogen wischte über die Mappe, dabei rutschte sie ihr von den Knien. Der Inhalt verstreute sich, Formulare, Berichte, Kurven, Röntgenbilder. Beverly hockte sich hin und sammelte die Papiere auf. Ihr Blick huschte über die Buchstaben, aber sie las nicht. Hätte sie den Namen erkannt, sie hätte geahnt, wer diese Frau war. Sie legte ihr die Mappe wieder auf die Knie.

      „Danke! ... Wo waren wir stehen geblieben? Der Bogen! Sie folgen dem großen Bogen bis zum Ende, nehmen die Tür links, dann sind Sie genau da, wo sie hinwollten.“

      Helen Fullers Bein lag in einer Gipsschiene und war mit weißem Mull bandagiert. In ihrem linken Arm steckte eine Infusionsnadel, die Flasche mit der Lösung hing an einem Metallständer. Das Krankenbett war mit bunten Illustrierten übersät, die Fensterbank stand voller Blumensträuße. Mit Besuch vom Yard hatte Helen Fuller wohl nicht gerechnet. Sie starrte irritiert auf das Foto, machte ein betretenes Gesicht und schien nach den passenden Worten zu suchen. Sie schob sich eine Praline in den Mund, während ihr Blick noch immer auf Timothy St. Williams haftete.

      „Und?“, forschte Beverly, „erkennen Sie ihn wieder?“ Sie blickte auf und kaute. „Ich weiß nicht.“ Sie nahm eine weitere Praline. Das Foto lag in ihrer Hand, Helen schluckte. „Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß auch nicht, wie er heißt.“ Sie schaute auf, dann wieder das Foto an.

      „Sie haben ihn mir doch beschrieben Mrs. Fuller“, warf Beverly ungläubig ein. „Sie haben mir an dem Tatabend bei Sheila Morenos Haus eine Täterbeschreibung geliefert. Sie können jetzt nicht einfach behaupten, dass Sie ihn nicht gesehen haben.“

      Helens Stimme wurde leise, als sie unsicher fortfuhr. „Er war sehr scheu. Wenn jemand Sheila besuchte, ist er in seinem Zimmer geblieben. Sie hatte auch keine Fotos von ihm. Er hat sich nicht fotografieren lassen. ... Sie hat ihn mir einmal beschrieben.“

      Beverly hatte Mühe, ihren Ärger zu verbergen. Sie wusste, dass jede Situation für den Betrachter rein subjektiv war, dass verschiedene Menschen, reinen Gewissens, ein und dieselbe Sache völlig anders empfinden und beschreiben konnten. Aber dennoch gab es Grenzen. Entweder hatte man den Verdächtigen gesehen oder nicht. „Mrs. Fuller, Sie haben mir diesen Mann so beschrieben, als seien Sie ihm selbst begegnet. Das war leichtfertig und nicht korrekt. Hier geht es um Ermittlungen in einem Mordfall, um den Tod von Sheila Moreno. Ich werde eine Korrektur Ihrer Aussage anfertigen müssen und sie der Akte beiheften.“

      Helen Fuller zerknüllte nervös ein Bonbonpapier zwischen den Fingern. „Ich wollte doch nicht ... ich wusste doch nicht ... “

      „Ich denke, dass wird ohne Folgen für Sie bleiben.“ Beverly nahm das Foto und erhob sich. Sie gab Helen die Hand und zwang sich zu einem Lächeln.

       Als sie die Tür des Krankenzimmers hinter sich schloss, war sie mehr als frustriert. Sie hatte sich von Helen Fuller Klarheit darüber