Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
Скачать книгу
die Hände ineinander, und sie stieg hinauf. Bleiches Licht und Regen fielen durch die Löcher im Dach. Sie konnte den schwarz verhangenen Himmel sehen. Der Boden unter ihren Füßen knarrte bedrohlich; bei jedem Schritt hatte sie das ungute Gefühl, die Bohlen könnten jeden Augenblick unter ihr nachgeben. Sie leuchtete mit der Stablampe ringsum: Spinnenweben, zwei zerbrochene Stühle, Matratzen, ein altes Bettgestell, eine Stehlampe und ein paar Kartons mit Rollen alter Tapete und mottenzerfressenen Decken, ... sollte das alles sein? Sie spürte den Staub in ihrem Hals, er zwang sie zu husten. Beverly ließ den Schein der Lampe bis in die hinteren Ecken wandern, wo sich die Balken mit dem Haus verbanden. Dort standen zwei Holzkisten. Sie kroch durch den fingerdicken Staub unter die Dachschräge und hörte ein leises Wimmern. Einen Moment lang hielt sie erschrocken den Atem an, dann leuchtete sie in die vordere Kiste. Ein Wurf junger Kätzchen quengelte nach seiner Mutter. Ein Lächeln huschte über Beverlys Gesicht, als sie die bunten Fellknäuel sah, die sich in ihrem weichen Nest aneinander drängten. Sie widerstand der Versuchung, sie anzufassen, und zog die andere Kiste unter der Schräge hervor. Ein sorgsam verschnürter Karton lag darin. Sie nahm ihn heraus, er war unerwartet schwer. „Ich hab’ was gefunden.“ Sie schob den Karton zur Luke und ließ ihn herunterfallen. Sands fing ihn auf, eine Staubwolke nebelte ihn ein.

       „Zur Seite, ich komme jetzt runter.“ Sie setzte sich in die Luke, stieß sich ab und landete sicher auf dem abgewetzten Boden des Flurs.

      „Darf ich mal?“, fragte er kurz und begann an ihrer Frisur zu zupfen, „du hast Spinnweben in den Haaren und Spinnen.“ Sie hielt still und sah ihn an. „Du siehst irgendwie auch nicht mehr taufrisch aus.“ Und deine Hände in meinen Haaren. Sie spürte einen wohligen Schauer ihren Nacken hinabrieseln.

      Er lachte. Das war selten. „Sieh dich mal an, der reinste Staubwedel.“

      Hastig klopfte sie ihre Kleidung ab, dann traten sie den Rückweg durch das Haus von Maggie Hunter an.

      Draußen goss es Bindfäden, der Regen gab ihrem Outfit endgültig den Rest. Sie bahnten sich den Weg zurück durch das nasse Gestrüpp. Im Wagen befreite Beverly den Karton von seiner Verschnürung. Er war voller vergilbter Notenblätter und Sands schien ihr die Enttäuschung anzusehen.

       „Lass uns zum Hotel fahren. Wir müssen erst mal aus den nassen Sachen raus. Die Papiere sehen wir uns anschließend genauer an.“

      „Du hast Recht“, entgegnete sie. „Ich bin nicht gerade scharf auf eine Erkältung. Was ich jetzt dringend brauche, ist eine heiße Dusche.“

      Beverly ließ ein Foto nach dem anderen durch ihre Hände wandern während Doris Boyle sie aufmerksam ansah.

      „Die Bilder sind von einem Sommerfest. Das da ist Tim Wilson, daneben sehen Sie Maggie.“

      Tim Wilson. Timothy St. Williams. Ein hochgewachsener junger Mann mit blassen schmalen Zügen und einer sanften Ausstrahlung. Timothys langes dunkelblondes Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. Die Art, wie er da neben Maggie stand, beinahe geduckt, ängstlich, den Blick auf sie gerichtet, erweckte den Eindruck, man müsse ihn beschützen.

      „Eigentlich ist er nie irgendwohin gegangen, Maggie muss ihn wohl überredet haben.“

      „Wer ist die Familie auf dem anderen Foto?“, fragte Beverly interessiert. Sie musterte das Paar, das mit einem blonden Jungen auf einem hellen Sofa saß. Das Kind mochte vielleicht vier Jahre alt sein und lächelte den beiden Betrachterinnen gewitzt entgegen. Mit der Weste, die es über einem blauen Hemd trug, wirkte es wie ein Gentleman in Miniformat. Der Mann mochte etwa Sands’ Alter haben, er war dunkelblond, gutaussehend und trug eine Brille. Der Anzug aus dunklem Stoff stand ihm vortrefflich, seine entspannte Miene ließ ihn sehr symphatisch wirken. Die Frau schien wesentlich jünger zu sein. Die edlen Gesichtszüge wirkten streng und aristokratisch. Ihr brünettes Haar war zu einer eleganten Frisur hochgesteckt; das schmale schwarze Kleid, das sie trug, ließ die Schultern unbedeckt. Sie waren offensichtlich zu einem festlichen Anlass geladen gewesen und hatten sich fotografieren lassen. Doris betrachtete das Bild einen Augenblick lang, dann gab sie es zurück.

      „Das weiß ich leider nicht. Jedenfalls haben sie nie hier in der Straße gewohnt.“

      Beverly steckte die Fotos wieder in ihre Tasche und bedankte sich.

       Das Wetter hatte sich nicht beruhigt. Sie rannte zum Wagen. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe. Während sie fuhr, schwebten die Bilder vor ihrem inneren Auge. Wer war die Familie auf dem Foto? Warum hatte St. Williams es aufbewahrt? Wo war er? Wohin war er nach Maggies Tod verschwunden? Beverly hatte, nachdem sie die Fotos zwischen den Notenblättern gefunden hatten, nicht zu glauben gewagt, dass auch St. Williams auf einem der Bilder sein könnte. Sie hatte auf keinen Fall bis zum Morgen warten wollen und war nach dem Abendessen allein in die Greenwood Street zurückgekehrt. Jetzt hatte sie nicht nur ein Foto von ihm, sondern das Bild einer Familie, zu der er irgendeine Verbindung haben musste. Aber welche? Würden sie ihn finden, wenn sie herausbekamen, wer diese Familie war?

      Beverly warf den nassen Mantel über einen der Korbsessel und setzte sich zu Sands ins Foyer. Sie schob seinen Schlüsselbund über den Tisch und lächelte zufrieden.

      „Er ist auf dem Foto.“ Sie legte die Sommerfestszene auf den Tisch und ihren Finger auf Timothy. Sands betrachtete das Bild einen Moment schweigend, und Beverly legte das Familienfoto daneben. „Wer diese Leute sind, konnte mir Miss Boyle nicht sagen. Vielleicht kannte er sie und ist nach Maggies Tod dort untergeschlüpft. Wieder ein Puzzleteil. Aber wohin damit?“

      „Zumindest hat einer unserer Tatverdächtigen jetzt ein Gesicht bekommen“, antwortete Sands. „Das ist mehr als ich mir von Coventry erhofft hatte.“

      Es war fast Mitternacht. Obwohl sich Beverly völlig erschöpft fühlte, konnte sie keinen Schlaf finden. Durst quälte sie, aber sie wollte den Zimmerservice um diese Zeit nicht mehr bemühen. Ihre Gedanken kreisten und ließen sie nicht los. Sie stand auf, ging ans Fenster. Gedankenverloren blickte sie durch die Scheibe den Rücklichtern der Autos hinterher. Es regnete noch immer, sie fröstelte. Die Bar war sicher noch geöffnet. Sie würde sich ein Glas trockenen Wein holen. Sie schlüpfte in das hautenge cremefarbene Etuikleid, das sie immer in die Tasche packte, aber noch nie angezogen hatte. Sie hatte nicht einmal passende Schuhe dazu. Der Flur war menschenleer. Barfüßig lief sie die Treppe hinunter ins Foyer, an der Anmeldung vorbei und in die Hotelbar. Das Licht war gedämpft. Ein Pärchen saß am Tresen, und jemand saß allein an einem der Tische, eine fast leere Flasche Wein und ein halbvolles Glas vor sich, den Kopf in die Hände gestützt. Es war Sands. Sie vergaß auf der Stelle, was sie eigentlich wollte, setzte sich zu ihm. Er ließ die Hände sinken und schaute sie an. Er sah erschöpft und unglücklich aus. Er warf einen Blick zum Kellner herüber, der ein Glas und eine weitere Flasche Rotwein brachte. Beverly hatte Sands niemals vorher so erlebt; er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, sie hier um diese Zeit noch zu sehen. Sie wusste, wie zermürbend ihre Ermittlungsarbeit sein konnte, aber es war wohl etwas anderes, das ihn beschäftigte. Sie konnte nicht leugnen, dass sein Anblick ihr wehtat.

      „Ich weiß, dass mich dein Privatleben nichts angeht, Harold, aber wenn ich dir irgendwie helfen kann...“

      Er senkte den Kopf, und Beverly fühlte sich völlig hilflos. Sie schwiegen. Leise Musik füllte die Stille, bis Sands seinen Blick wieder hob. „Danke, Beverly, aber ich fürchte, das kannst du nicht.“

      Sie schaute ihm in die brennenden Augen, jetzt hielt er ihrem Blick wieder mühelos stand. „Lass es mich wenigstens versuchen.“

      Er schüttelte langsam den Kopf und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

      Er hat Angst vor meiner Nähe. Beverly war sich sicher.

      „Du lässt dir niemals in die Seele blicken“, flüsterte sie. Es war eine Feststellung.

      Er lächelte müde und musterte sie. Beverly wurde sich bewusst, dass er sie nie zuvor so gesehen hatte, nur als Frau, in einem engen Kleid, das Haar offen in roten Wellen bis zu den Hüften herabfallend. Sie ergriff ihr Weinglas und trank es