Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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sah ihn an, sein Blick wanderte über ihr Haar, ihr Gesicht, ihren Körper. Der Moment und der Alkohol wühlten sie auf.

      „Lass uns tanzen.“

      Tanzen? Beverly, du hast dich verhört!

      Er erhob sich, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er nahm ihre Hand. Augenblicklich begann ihr Puls zu rasen. Sie fragte sich, wie viel er schon getrunken hatte. Wie selbstverständlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, seine Fingerspitzen streiften ihre Haut. Sie begannen zu tanzen, der Abstand ihrer Körper schmolz in wenigen Sekunden zu einem hauchdünnen Nichts. Niemals vorher war sie ihm so nah gewesen. Sie spürte mit einem heißen Schauer, wie er seine Arme eng um ihren Körper schlang und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie atmete seinen Duft, genoss seine Wärme und spürte, wie Begierde in ihr wach wurde. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, sie würde seine Haut auf ihrer spüren, sie würde ihn nie wieder loslassen. Sie versuchte, sich von einem Gefühl der Unendlichkeit tragen zu lassen, spürte keine Müdigkeit, keine Kälte. Sie dachte nicht mehr an die Dinge, die sie hierher gebracht hatten. London war so weit weg.

      Doch plötzlich hörte die Musik auf. Nur noch das leise Klirren der Gläser, die ins Regal gestellt wurden, war zu hören; es war offensichtlich, dass der Barkeeper Feierabend machen wollte. Sie standen eine Weile still und eng umschlungen. Ihre Blicke trafen sich. Beverly konnte sich nicht entsinnen, dass Sands sie jemals so angesehen hatte. Einen winzigen Augenblick lang glaubte sie, er würde sie küssen. Sie zögerte. Er ist verheiratet, ... er hat getrunken, ... er wird es bereuen. Und in diesem Moment löste er vorsichtig seine Umarmung.

      Mittwoch, 13. März

      „Du kannst dich jetzt wochenlang über eine verpasste Chance ärgern, Beverly.“ Sie blickte zerknirscht und unausgeschlafen in den Spiegel. Der schwere Rotwein hatte ihr einen stechenden Kopfschmerz hinterlassen. „Du kannst dich auch stattdessen über dein reines Gewissen freuen. Ist doch auch was.“ Sie seufzte, und bei dem Gedanken an Sands durchlief sie der gleiche Schauer wie Stunden zuvor in der Hotelbar. Während sie sich vom warmen Strahl der Dusche berieseln ließ, versuchte sie sich einzureden, dass es so besser war. Ja, Evans. Was hätte das gebracht? Du weißt doch, wie es ist, mit einem verheirateten Mann zusammen zu sein. Du weißt doch, dass es nichts bringt, dass es weh tut. Das genau ist es doch, was du nie wieder wolltest! Auch wenn nichts weiter zwischen ihnen geschehen war, hatte sie die Situation doch völlig neben die Spur gebracht. Das Verlangen, Sands nahe zu sein, war wieder übermächtig, und Fleming war aus ihrem Kopf verschwunden. Es konnte nicht so weiter gehen. Sie musste es ein für allemal verstehen. Egal, welche Probleme Sands mit seiner Frau haben mochte, er hatte gestern bewiesen, dass ihm seine Ehe wichtiger war als eine Affäre mit ihr. Eines hatten sie beide getan: Sie hatten ihre Verbundenheit nicht durch eine flüchtige Liebesnacht aufs Spiel gesetzt.

      Sands saß mit einer Zeitung im Foyer und wartete auf sie. Er sah wesentlich ausgeschlafener aus als sie selbst, er begrüßte sie mit einem Lächeln. Es war kurz vor halb acht, sie waren die Ersten im Restaurant. Sie sprachen nicht über den gestrigen Abend, niemand von ihnen wollte den kurzen Austausch von Nähe und Trost zerreden. Beverly war froh, ihm ohne ein Gefühl von Schuld gegenüberzusitzen, ihm ohne Scham in die Augen sehen zu können und ihm schien es genauso zu gehen. Beverly erinnerte sich an das Gefühl, das sie jedes Mal beschlichen hatte, wenn sie mit Edward zusammen gewesen war. Das Gefühl, einer ahnungslosen Ehefrau ihren Mann zu stehlen und dennoch immer allein zu sein. Für Edward war das alles nur ein erotisches Spiel gewesen, er hatte ihre Gefühle nie ernst genommen. Jedes heimliche Zusammensein mit ihm hatte abrupt geendet, weil er sich irgendwann daran erinnert hatte, dass es da noch eine Frau gab, die auf ihn wartete. Beverly hatte gegen die Leere gekämpft, sich einsam gefühlt, ausgenutzt und betrogen, Stunden danach noch aufgewühlt von seinen Berührungen und in keiner Weise befriedigt. Nein, nie wieder einen verheirateten Mann, nie wieder vergebliches Warten, schnellen Sex, nie wieder sinnloses Gerede über eine gemeinsame Zukunft, die es ohnehin nicht geben würde.

      „Ich weiß jetzt, wer der Mann auf dem Foto ist“, holte sie Sands aus ihren Gedanken. Sie schaute ihn mit offenem Erstaunen an. „Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, wo ich ihn schon einmal gesehen habe. In den Ermittlungsakten bei der Kripo in Birmingham gab es einen alten Zeitungsausschnitt mit einem Bild von Frank Harwood. Es wurde vermutlich nach seiner Verhaftung aufgenommen. Die Brille fehlte, die Haare waren ungekämmt, deshalb bin ich nicht gleich darauf gekommen. Das auf dem Bild ist die Familie Harwood.“

      „Nicht zu fassen.“ Beverly versuchte klar zu denken, sie spürte, wie der Schmerz ihre Gedanken verwischte. Sie kniff die Augen zusammen.

      „Dir scheint der Wein gestern nicht gut bekommen zu sein.“

      „Der Wein und der fehlende Schlaf. Ich hab Kopfschmerzen, aber es geht schon.“ Sie goss sich Tee ein und ließ einen Löffel voll Zucker hineinrieseln. Während sie rührte, dachte sie fieberhaft nach. „Warum hat Timothy St. Williams ein Foto der Familie Harwood? Das könnte bedeuten, dass er sie gekannt hat. Es könnte aber auch bedeuten, dass er der Mörder von Carla Harwood ist.“ Sie stockte einen Moment bevor sie fortfuhr. „Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass ein Junge, der seiner Mutter den Mund zunähen wollte, ausgerechnet an eine Familie gerät, in der ein Mann seiner Frau das Gleiche antut? Du weißt, worauf ich hinaus will?“

      Sands nickte. „Ich denke, das ist genau der Punkt. Es war nicht Dr. Harwood, der seine Frau umgebracht hat, es muss Timothy St. Williams gewesen sein.“

      „Eines verstehe ich allerdings nicht.“, warf Beverly ein. „Wenn der Ehemann es nicht war, warum hat er sich erhängt? Die Ermittlungen waren noch im Gange, er hatte Freunde, die zu seinen Gunsten ausgesagt haben, er hätte freikommen können.“

      „Dazu könnten wir jetzt allerhand Vermutungen anstellen. Tatsache ist, dass er die Tote in diesem schrecklichen Zustand gefunden hat und ihr nicht mehr helfen konnte. Er wird wegen Mordes an seiner Frau verhaftet, obwohl er unschuldig ist. Er weiß nicht, was mit seinem Sohn geschieht. Wahrscheinlich sind sie in den Verhören nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen. Er wird auch nichts über den Ermittlungsstand gewusst haben, vielleicht hat er deshalb geglaubt, die Lage sei ausweglos. Es gibt Situationen im Leben, da ist die Verzweiflung größer als alles andere.“

      Sie schwiegen einen Moment, Beverly trank einen Schluck Tee. Dann nahm sie den Faden wieder auf. „St. Williams hat Carla Harwood getötet, da können wir ziemlich sicher sein. Aber hat er auch Laurie Hardin und Sheila Moreno auf dem Gewissen? Haben die siebzehn Jahre bei Maggie Hunter gereicht, um ihn zu läutern? Hat vielleicht Daniel Harwood die späteren Taten verübt, weil ihm das Bild seiner ermordeten Mutter nicht aus dem Kopf ging? Oder ist es wahrscheinlicher, dass St. Williams nach Maggies Tod weitermordete? Harold, wenn du jetzt auf der Stelle einen Tipp abgeben müsstest, wer wäre dann der Mörder von Hardin und Moreno?“

      Er sah sie nachdenklich an. „Beide könnten es gewesen sein, aber mein Gefühl sagt mir, dass es Timothy St. Williams war.“

      Das Wohnstift lag am Rande des Zentrums in der Nähe des Naul’s Mill Parks. Der Baustil deutete darauf hin, dass das feudale Gebäude mit den hohen Säulen um die Jahrhundertwende entstanden sein musste. Es war restauriert worden und war äußerst gepflegt. Einen solchen Altersruhesitz konnten sich wohl nur die oberen Zehntausend leisten. Beverly ging durch den symmetrisch angelegten Vorgarten und klingelte. Als es summte, schob sie die Tür auf, trat in die hohe, helle Vorhalle. Eine Frau, sie mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, kam auf sie zu. Sie trug ein perfekt geschnittenes dunkelgraues Kostüm, ihre Haare waren zu einem Knoten gebunden. Sie lächelte kühl, ihr schmallippiger Mund wirkte wie ein dünner Strich.

      „Guten Tag, ich hatte vorhin angerufen. Ich bin Sergeant Evans.“

      „Ja, guten Tag. Ich bin Sarah McIntyre. Ich leite dieses Wohnstift. Wie ich schon sagte, Miss Evans, ich glaube nicht, dass ein Gespräch mit Dr. Gordon ihnen weiterhelfen wird. Er ist fünfundachtzig. Er leidet an Demenz. Sie wissen ja sicher, was das bedeutet.“

      Sie wusste es, und sie war froh darüber, sich nicht von Miss McIntyre