Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leo Tolstoi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027211456
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hatte sie auch begriffen, daß der Zweck aller dieser Worte und Bemühungen hauptsächlich darin bestand, sie zur katholischen Religion zu bekehren und ihr Geld abzunehmen zum Besten jesuitischer Zwecke. Es hatte nie an Anspielungen dazu gefehlt, aber Helene bestand darauf, ehe sie Geld gab, daß die verschiedenen Operationen mit ihr vorgenommen werden, welche sie von ihrem Mann befreien sollten. Nach ihren Begriffen bestand die Bedeutung jeder Religion nur darin, daß bei der Befriedigung menschlicher Wünsche ein gewisser Anstand beobachtet werden sollte. Deshalb verlangte sie in einer ihrer Unterhaltungen mit dem Geistlichen mit großer Entschiedenheit eine Antwort von ihm auf die Frage, wie weit sie durch ihre Heirat gebunden sei. Sie saßen im Salon beim Fenster. Es dämmerte, durch das Fenster kam Blumenduft herein. Helene trug ein weißes Kleid, das auf der Brust und an den Schultern durchsichtig war. Der wohlgenährte Abt mit glattrasierten Wangen und weißen Händen saß nahe bei Helene. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen und weltlichem Entzücken blickte er zuweilen ihr Gesicht an und sprach seine Ansicht über die sie beschäftigende Frage aus.

      Der Gedankengang des Gewissensrats war folgender: »In Unwissenheit über die Bedeutung dessen, was Sie taten, haben Sie das Versprechen ehelicher Treue einem Menschen gegeben, welcher seinerseits in die Ehe trat, ohne an die religiöse Bedeutung der Ehe zu glauben und dadurch eine Gotteslästerung beging. Diese Ehe hatte nicht die doppelte Bedeutung, welche sie haben sollte, aber dennoch waren Sie durch Ihr Versprechen gebunden. Sie haben ihn verlassen. Was haben Sie damit getan? Eine verzeihliche Sünde oder eine Todsünde? Eine verzeihliche Sünde, weil Sie sie ohne böse Absicht begangen haben. Wenn Sie jetzt in eine neue Ehe treten, so kann Ihre Sünde vergeben werden, aber die Frage teilt sich wieder in zwei Abteilungen. Die erste …«

      »Aber ich denke«, sagte Helene plötzlich aufspringend mit ihrem bezaubernden Lächeln, »nachdem ich zu der wahren Religion übergetreten bin, kann ich nicht gebunden sein durch das, was mir eine falsche Religion auflegte?«

      Der Gewissensrat war erstaunt über dieses Kolumbusei, das mit solcher naiven Einfachheit vor ihm aufgestellt wurde. Er war entzückt über die unerwartet schnellen Erfolge seiner Schülerin.

      »Wir wollen die Sache überlegen, Gräfin«, sagte er lachend und begann ihre Ansicht zu widerlegen.

      182

       Inhaltsverzeichnis

      Helene begriff, daß die Sache vom geistlichen Standpunkt aus sehr einfach war, aber daß ihre Führer ihr Schwierigkeiten nur deshalb machten, weil sie im Zweifel waren, wie die weltliche Gewalt die Sache ansehen werde. Demzufolge kam Helene zu dem Schluß, daß die Sache in der Gesellschaft vorbereitet werden müsse. Sie rief die Eifersucht des alten Ministers hervor und sagte ihm dasselbe wie ihrem ersten Verehrer, nämlich, daß es das einzige Mittel zur Erlangung von Rechten auf sie sei, sie zu heiraten. Im ersten Augenblick war der alte Herr verdutzt über diesen Vorschlag, bei Lebzeiten ihres Mannes einen anderen zu heiraten. Aber die unerschütterliche Überzeugung Helenes, daß das alles so einfach und natürlich sei wie die Heirat eines Mädchens, wirkte auch auf ihn. Hätte sie nur die geringsten Anzeichen von Zwang, von Scham oder Hintergedanken merken lassen, so wäre ihr Spiel unzweifelhaft verloren gewesen, aber es war kein Zwang und keine Beschämung an ihr zu bemerken. Sie erzählte vielmehr mit gutmütiger Naivität ihren nächsten Bekannten – und das war ganz Petersburg –, der Prinz und der Minister haben ihr Heiratsanträge gemacht, sie liebe beide und möchte keinen verletzen.

      In Petersburg verbreitete sich sogleich das Gerücht, nicht, daß Helene sich von ihrem Mann scheiden lassen wolle, sondern das Gerücht, daß die unglückliche, interessante Helene sich in Verlegenheit und Unschlüssigkeit befinde, weil sie nicht wisse, welchen von beiden sie heiraten solle. Es kam schon nicht mehr in Frage, wieweit das möglich sei, sondern nur, welche Partie vorteilhafter sei und wie der Hof das ansehen werde. Es gab wirklich einige Menschen, welche sich nicht auf die Höhe der Fragen erheben konnten und von Entweihung des Sakraments der Ehe sprachen, aber solche gab es wenige. Darüber, ob es gut oder böse sei, bei Lebzeiten des Mannes einen anderen zu heiraten, sprach niemand, weil diese Frage für klügere Leute bereits gelöst war und man durch Zweifel an der Richtigkeit der Lösung dieser Frage riskierte, für einen beschränkten Menschen ohne Lebensart angesehen zu werden.

      Der Fürst Wassil, welcher in letzter Zeit besonders oft vergaß, was er gesagt hatte und hundertmal dasselbe wiederholte, sagte jedesmal, wenn er seine Tochter sah: »Helene, ich muß dir etwas sagen.« Er führte sie beiseite und zog sie an der Hand auf einen Stuhl nieder. »Ich habe einige Bemerkungen gehört in betreff … nun, du weißt! Nun, mein liebes Kind, du weißt, daß das Herz deines Vaters sich darüber freut, daß du … du hast so viel durchgemacht! … Aber liebes Kind … handle so, wie dir dein Herz gebietet, das ist alles, was ich dir raten kann!« Dabei suchte er immer dieselbe Aufregung zu verbergen, drückte seine Wange an die seiner Tochter und ging.

      Zu den Leuten, welche sich erlaubten, Zweifel an der Gesetzlichkeit der beabsichtigten Heirat auszusprechen, gehörte auch die Mutter Helenes, die Fürstin Kuragin. Sie wurde beständig von Neid auf ihre Tochter gequält und beriet sich mit einem russischen Geistlichen darüber, wieweit die Scheidung und eine neue Heirat bei Lebzeiten des Mannes möglich sei. Der Geistliche hatte ihr gesagt, das sei unmöglich, und verwies sie auf den Text in einem Evangelium, in welchem, wie dem Popen schien, die Möglichkeit einer zweiten Ehe bei Lebzeiten des Mannes direkt verneint wurde. Bewaffnet mit diesen Argumenten, welche ihr unwiderleglich erschienen, kam die Fürstin frühmorgens zu ihrer Tochter, um sie sicher anzutreffen. Helene hörte die Ermahnungen ihrer Mutter mit mildem, spöttischem Lächeln an.

      »Siehst du, es heißt gerade da, wer eine geschiedene Frau heiratet …« sagte die alte Fürstin.

      »Ach, Mama, reden Sie keinen Unsinn! Davon verstehen Sie nichts!«

      »Aber meine Liebe …«

      »Aber, Mama, wie ist’s möglich, daß Sie das nicht begreifen, daß der Heilige Vater, der die Gewalt hat, zu vergeben …«

      In diesem Augenblick wurde Helene durch eine Gesellschafterin gemeldet, Seine Hoheit sei im Saal und wünsche sie zu sehen.

      »Nein, sagen Sie ihm, ich wolle ihn nicht sehen, ich sei ihm böse, weil er mir nicht Wort gehalten hat.«

      »Gräfin, für jede Sünde gibt es Gnade«, sagte der junge Mann mit langem Gesicht und langer Nase, indem er eintrat.

      Die alte Frau stand ehrerbietig auf und setzte sich wieder. Der Prinz achtete nicht im geringsten auf sie.

      Die Fürstin nickte ihrer Tochter zu und schwebte zur Tür.

      »Nein, sie hat recht«, dachte die alte Fürstin, deren Überzeugungen vor dem Erscheinen Seiner Hoheit zusammenfielen, »sie hat recht. Aber wie kam es, daß wir in unserer ehrbaren Jugend das nicht gekannt haben? Und das ist doch so einfach«, dachte die alte Fürstin, indem sie in den Wagen stieg.

      Anfangs August war die Angelegenheit Helenes vollkommen entschieden, und sie schrieb ihrem Mann, der sie sehr liebte, wie sie glaubte, einen Brief, in welchem sie ihm von ihrer Absicht, Herrn N. N. zu heiraten, sowie von ihrem Übertritt zur alleinseligmachenden Religion Mitteilung machte und ihn bat, alle die Scheidung unumgänglichen Förmlichkeiten zu erfüllen, über welche ihm der Überbringer dieses Briefes berichten werde.

      »Zugleich bitte ich Gott, Sie, mein Freund, unter seinen heiligen, starken Schutz zu nehmen.

      Ihre Freundin Helene.«

      Dieser Brief wurde in das Haus Peters gebracht, während er sich auf dem Schlachtfelde von Borodino befand.

      183

       Inhaltsverzeichnis

      Zum zweitenmal schon am Ende der Schlacht floh Peter mit einem Haufen Soldaten aus der Batterie Rajewsky die Anhöhe nach Knjaskowo hinab, an dem Verbandplatz vorüber, wo er Blut sah, Geschrei, und Stöhnen