Sie entschloß sich endlich, am 15. September abzureisen. Die Vorbereitungen hatten sie den ganzen 14. beschäftigt, und sie verbrachte die folgende Nacht, wie gewöhnlich, ohne sich zu entkleiden, in einem Zimmer neben dem ihres Vaters. Sie konnte nicht schlafen und näherte sich immer wieder der Tür, um zu horchen. Sie hörte, wie er stöhnte, während Tichon und der Arzt seine Lage veränderten. Noch nie zuvor hatte sie so tiefes Mitleid empfunden. Eine Veränderung war in ihr vorgegangen, jetzt fürchtete sie, ihn zu verlieren, und erinnerte sich an zahlreiche Beweise seiner Zuneigung für sie während der gemeinschaftlich verlebten, langen Jahre. Sie verscheuchte die Phantasiebilder ihres zukünftigen Lebens wie Einflüsterungen des bösen Geistes. Endlich, als sie kein Geräusch bei dem Kranken mehr hörte, schlief sie erschöpft bis zum Morgen.
»Also immer dasselbe«, sagte sie sich, erwachend. »Was wünsche ich denn? Seinen Tod!« rief sie mit Abscheu. Sie kleidete sich hastig an, betete und ging auf die Terrasse hinaus. Man spannte die Pferde an den Wagen und lud die letzten Sachen auf. Es war mildes Wetter. Der Arzt näherte sich der Fürstin.
»Er sieht heute morgen etwas besser aus! Ich habe Sie gesucht. Man kann ihn ein wenig verstehen. Kommen Sie, er fragt nach Ihnen!«
Der Kranke lag aufgerichtet, von Kissen unterstützt. Marie näherte sich ihm und küßte seine Hand. Die linke Hand ihres Vaters drückte sogleich die ihrige, augenscheinlich hatte er sie erwartet. Erschreckt blickte sie ihn an. Was wünschte er? Er beruhigte sich sogleich und machte eine verzweifelte Anstrengung, zu sprechen. Die Zunge bewegte sich etwas, es folgten einige unverständliche Laute und endlich sprach er einige Worte, indem er seine Tochter bittend und furchtsam ansah. Mehrmals wiederholte er dieselben Silben, aber es war unmöglich, sie zu verstehen. Endlich glaubte der Arzt zu erraten, daß er fragte, ob sie Furcht habe, und wiederholte dies laut, aber der Kranke schüttelte verneinend den Kopf. »Ich denke immer an dich«, sagte er endlich, beinahe deutlich. »Ich habe dich die ganze Nacht gerufen.«
»Wenn ich gewußt hätte …« erwiderte sie.
»Hast du nicht geschlafen?« fragte er.
»Nein«, erwiderte sie.
»Mein Seelchen!« murmelte er, »mein Seelchen!«
Sie konnte das Wort kaum verstehen, aber sein Blick sagte ihr, daß er einen zärtlichen Ausdruck ausgesprochen hatte, was nie bei ihm vorgekommen war.
»Warum bist du nicht gekommen?«
»Und ich habe seinen Tod gewünscht!« sagte sie zu sich selbst.
»Danke, meine Tochter, meine Freundin, danke für alles!… Vergib! – Danke!« Zwei Tränen glänzten in seinen Augen. »Schreibe Andree, er soll kommen!«
»Ich habe einen Brief von ihm erhalten«, erwiderte Marie.
»Wo ist er denn?« fragte der Fürst erstaunt.
»Bei der Armee, bei Smolensk.«
Lange schwieg er, dann öffnete er die Augen. »Ja«, sagte er langsam und deutlich, »Rußland ist verloren! Sie haben es zugrunde gerichtet!« Und er schluchzte.
Er machte mit der Hand eine Bewegung, deren Sinn Tichon verstand. Er wischte ihm die Tränen ab. Während der alte Fürst von seinem Sohn, vom Krieg, vom Kaiser sprach, zornig die Augenbrauen zusammenzog und seine heisere Stimme immer lauter wurde, war er plötzlich von einem zweiten und letzten Schlag gerührt worden.
Das Wetter hatte sich aufgeheitert, die Sonne strahlte in ihrer ganzen Pracht, aber Marie sah nichts, vermochte an nichts zu denken. Ihr einziges Gefühl war eine verdoppelte Zärtlichkeit für ihren Vater, den sie nie so geliebt hatte wie in diesem Augenblick. Sie stieg die Treppe von der Terrasse hinab und schritt rasch durch die Lindenallee nach dem Teich. Ja, ich habe seinen Tod herbeigewünscht«, sagte sie laut in heftiger Aufregung, »um Ruhe zu finden.« Sie ging durch den Garten und als sie wieder zum Hause zurückkam, sah sie, wie Mademoiselle Bourienne mit einem Unbekannten ihr entgegenkam. Es war der Adelsmarschall, welcher ausdrücklich gekommen war, um Marie die Notwendigkeit sofortiger Abreise dringend vorzustellen. Sie hörte ihn an, ohne zu verstehen, lud ihn ein, in den Speisesaal zu treten und zu frühstücken, sofort aber erhob sie sich wieder aufgeregt und unruhig, entschuldigte sich und eilte in das Zimmer ihres Vaters. Der Arzt erschien an der Schwelle.
»Sie können nicht eintreten, Fürstin, gehen Sie!« sagte er mit Entschiedenheit.
Sie kehrte in den Garten zurück und setzte sich an den Rand des Teiches. Man konnte sie dort vom Hause aus nicht bemerken. Sie wußte nicht, wie lange Zeit sie dort gesessen hatte, bis sie endlich plötzlich aus ihrer Träumerei erweckt wurde durch Schritte, die sich auf dem Kiesweg näherten. Es war Dunjascha, ihre Kammerzofe, die man nach ihr ausgesandt hatte.
»Kommen Sie«, rief sie, »der Fürst …«
»Gleich, gleich«, erwiderte Marie und eilte auf das Haus zu.
»Fürstin«, sagte der Arzt, der sie am Eingang erwartete, »der Wille Gottes ist erfüllt. Fassen Sie sich!«
»Es ist nicht wahr! Lassen Sie mich!« rief sie in heftiger Angst.
Der Arzt suchte sie zurückzuhalten, aber sie drängte sich vorüber.
»Warum hält man mich zurück? Warum diese erschreckten Gesichter…?«
Sie trat in das Zimmer ihres Vaters. Die alte Amme und noch einige Frauen, die das Bett umgaben, traten bei ihrem Anblick zurück, und sie erblickte das strenge, aber ruhige Gesicht des Toten.
»Nein, es ist nicht möglich!« rief sie.
Sie überwand ihren Schrecken, näherte sich dem Totenbett und drückte ihre Lippen auf die Wange ihres Vaters. Aber bei dieser Berührung zitterte sie und schrak zurück. Alle Liebe, die sie empfunden hatte, war verschwunden und einem Gefühl des Abscheus und der Furcht gewichen.
»Er ist nicht mehr! Er ist nicht mehr, und an seiner Stelle ist etwas Schreckliches, ein entsetzliches Geheimnis erschienen, das mich zurückstößt und erstarren macht«, murmelte sie. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und fiel bewußtlos in die Arme des Arztes, der ihr gefolgt war.
Der Leichnam wurde gewaschen und mit seiner Uniform bekleidet, und alle Orden wurden auf einem kleinen Tisch neben der Leiche niedergelegt. Wie durch Zauberei war der Sarg am Abend bereit, man bedeckte ihn mit dem Leichentuch, Kerzen wurden angezündet, man streute Wacholderzweige auf den Fußboden aus, und der Diakon begann Psalmen zu lesen. Viele Nachbarn und sogar Fremde waren gekommen und umgaben den Sarg, zitternd wie Pferde, welche schnauben und sich bäumen beim Anblick eines toten Pferdes. Der Adelsmarschall, der Dorfälteste und die Dienstleute des Hauses bekreuzigten und verbeugten sich mit starren Augen und schreckerfüllten Gesichtern vor dem Sarg und küßten die kalte steife Hand des alten Fürsten.
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Bogutscharowo war bei seinem alten Herrn niemals beliebt gewesen. Die Bauern dieses Gutes waren verschieden von denen in Lysy Gory in ihrer Sprache, Kleidung und ihren Sitten. Sie nannten sich Steppenbewohner. Der Fürst schätzte sie als fleißige Arbeiter und ließ sie oft nach Lysy Gory zur Ernte kommen, aber er liebte sie nicht wegen ihres scheuen Wesens. Die Reformen des Fürsten Andree während seines Aufenthaltes in Bogutscharowo, die Hospitäler und Schulen, die er erbaut hatte, die Verminderung der Fronabgaben hatten ihr scheues Wesen nicht gemildert. Seltsame Gerüchte fanden bei ihnen immer Glauben. Bald erzählte man, die ganze Bevölkerung sei den Kosaken zugeschrieben worden, man werde eine neue Religion bei ihnen einführen; oft sprachen sie auch von der Freiheit, die der Kaiser Paul im Jahre 1707 ihnen gegeben und welche die Herren wieder weggenommen hätten. Der Krieg mit Napoleon