Nachdem Alpatitsch endlich alle Aufträge erhalten hatte, ergriff er Mütze und Stock und bestieg in Gegenwart aller Hofleute eine leichte Kibitka mit einem munteren Dreigespann und fuhr ab.
Unterwegs begegnete und überholte Alpatitsch Wagenzüge und Truppen. Als er Smolensk erreichte, hörte er in der Ferne Schüsse. Indessen seit dreißig Jahren war Alpatitsch nur gewohnt, dem Willen des Fürsten zu folgen, alles, was sich nicht auf die Erfüllung eines Befehls des Fürsten bezog, interessierte ihn nicht und existierte nicht für ihn.
Am Abend des 4. August kam Alpatitsch in Smolensk an und kehrte jenseits des Dnjepr in der Vorstadt in einem Gasthof eines gewissen Ferapontow ein, wie schon seit vielen Jahren. Er war ein dicker, schwarzhaariger, vierzigjähriger Bauer mit rotem Gesicht und dicken Lippen.
Ferapontow stand in Hemdärmeln vor seinem Laden an der Straße. Als er Alpatitsch erblickte, kam er ihm entgegen.
»Willkommen, Jakob Alpatitsch«, sagte der Wirt, »das Volk läuft fort aus der Stadt, und du kommst herein?«
»Warum fort?« fragte Alpatitsch.
»Ich sage auch, das Volk ist dumm, alles fürchtet sich vor den Franzosen.«
»Altweibergeschwätz!« knurrte Alpatitsch.
»Das meine ich auch, Jakob. Ich sage dir, es ist ja ein Befehl erlassen worden, den Franzosen nicht einzulassen. Aber jetzt verlangen die Bauern schon drei Rubel für eine Fuhre.«
Alpatitsch hörte zerstreut zu, verlangte einen Samowar und Heu für die Pferde, trank Tee und legte sich schlafen. Die ganze Nacht über zogen Truppen vorüber. Am andern Morgen legte Alpatitsch eine Jacke an, die er nur in der Stadt trug, und ging aus, um seine Aufträge zu besorgen. Es war ein sonniger Morgen, und schon um acht Uhr früh war es heiß.
»Ein kostbarer Tag für die Ernte«, sagte er.
Vom frühen Morgen an hörte man vor der Stadt Gewehrfeuer und Kanonendonner. Die Straßen waren voll Soldaten, Droschken fuhren hin und her, wie gewöhnlich, und die Krämer standen müßig vor ihren Läden. Alpatitsch besorgte seine Aufträge bei verschiedenen Behörden, auf der Post und beim Gouverneur; überall sprach man vom Krieg und vom Feind, der vor der Stadt stand.
Vor dem Hause des Gouverneurs stand eine Volksmenge und der Reisewagen des Gouverneurs, der ihn erwartete, von einer Anzahl Kosaken begleitet. Vor dem Eingang begegnete er zwei Herren, von denen er den einen, einen früheren Beamten, kannte.
»Das ist kein Spaß!« sagte dieser heftig. »Für einen Unverheirateten ist es etwas anderes, er hat nur für sich zu sorgen, aber wenn man dreizehn Kinder hat, und das ganze Vermögen in Gefahr ist! … Ist es erhört, daß die Behörde die Sache so weit kommen läßt? Hängen müßte man sie!«
»Aber beruhigen Sie sich doch! Man hört Sie!«
»Das ist mir gleichgültig, jeder kann es hören.«
»Oho, Jakob Alpatitsch, was machst du hier?«
»Ich komme auf Befehl Seiner Exzellenz zum Gouverneur«, erwiderte Alpatitsch mit einiger Würde, indem er die Hand in die Weste steckte, wie immer, wenn er von seinem Herrn sprach. »Ich soll mich erkundigen, wie die Sachen stehen.«
»Gehe nur hinein und erkundige dich! Du wirst bald erfahren, daß kein Wagen mehr zu finden ist. Hörst du das Schießen! Nun, da hast du’s! Die Schurken haben uns zum Untergang geführt.«
Alpatitsch stieg die Treppe hinauf. Der Wartesaal war angefüllt von Kaufleuten, Weibern und Beamten. Als die Tür zum Kabinett sich öffnete, erhoben sich alle und drängten vorwärts. Ein Beamter kam mit bestürzter Miene heraus, sprach einige Worte mit einem Kaufmann und rief einen anderen Beamten, der ein Kreuz um den Hals trug, herbei. Dann verschwand er mit ihm, ohne auf die Fragen, die von allen Seiten an ihn gerichtet wurden, zu antworten. Alpatitsch drängte sich in die vordere Reihe, und als derselbe Beamte wieder erschien, reichte er ihm seine zwei Briefe und steckte die Hand wieder in seine Weste.
»An den Herrn Baron Asch von dem General, Fürsten Bolkonsky«, sagte er mit so feierlicher Würde, daß der Beamte die Briefe sogleich zum Gouverneur hineinbrachte.
Wenige Augenblicke darauf wurde Alpatitsch gerufen. »Sage dem Fürsten«, begann der Gouverneur hastig, »ich wisse nichts, und höheren Instruktionen zufolge … Da nimm das! …« Er reichte ihm ein bedrucktes Blatt. »Der Fürst ist leidend, ich rate ihm, nach Moskau zu ziehen, ich selbst gehe dahin! … Sage ihm auch, ich habe nicht …« Aber er wurde unterbrochen. Ein mit Staub und Schweiß bedeckter Offizier stürzte in das Zimmer und sagte einige französische Worte zu dem Gouverneur, dessen Miene darauf Schrecken ausdrückte.
»Nun geh, geh!« sagte er zu Alpatitsch mit einem Kopfnicken. Alpatitsch ging, begleitet von den unruhigen Blicken der Wartenden. Er kehrte eilig in seinen Gasthof zurück und horchte jetzt gespannt auf das Gewehrfeuer, das näher kam. Auf dem Papier, das er vom Gouverneur erhalten hatte, stand gedruckt:
»Ich kann die Versicherung geben, daß der Stadt Smolensk noch keine Gefahr droht. Ich marschiere von der einen Seite und Fürst Bagration von der anderen auf die Stadt zu, um uns hier am 22. zu vereinigen, und die Armeen werden dann vereint das ihnen anvertraute Gouvernement verteidigen, bis sie den Feind des Vaterlandes zurückgeworfen haben, oder bis kein Soldat mehr übrigbleibt. Sie sehen, Herr Gouverneur, daß Sie die Einwohner Smolensks vollkommen beruhigen können, welche von zwei so tapferen Armeen, wie die unsrigen, verteidigt werden.« (Tagesbefehl des Generals Barclay de Tolly an den Gouverneur von Smolensk, Baron Asch. 1812.)
Das Volk drängte sich unruhig in den Straßen, fortwährend sah man Wagen, welche mit Möbeln und Habseligkeiten aller Art beladen waren, aus den Höfen der Häuser herauskommen und sich nach den Toren der Stadt zu bewegen. Auch vor dem Laden neben Ferapontows Haus standen einige Wagen, Weiber weinten und nahmen Abschied voneinander. Alpatitsch ging in den Hof und trat mit ungewohnter Eilfertigkeit an seinen Wagen, weckte den Kutscher und befahl ihm, einzuspannen und seine Sachen aus dem Hause herbeizuholen. Aus dem Zimmer des Wirtes hörte man Kinder und Weiber schreien und die grobe, zornige Stimme Ferapontows. Die Köchin kam wie ein gejagtes Huhn herausgelaufen.
»Er hat sie geschlagen! Die Frau hat er halbtot geschlagen!« schrie sie.
»Warum?« fragte Alpatitsch.
»Weil sie ihn gebeten hat, er soll sie abfahren lassen. ›Führe mich fort!‹ hat sie gesagt. ›Lasse mich nicht mit meinen Kindern hier sterben! … Du siehst ja, alle gehen fort, warum bleiben wir noch?‹ Nun, und dann hat er sie geschlagen! Oh! Oh! Oh!«
Alpatitsch verriet wenig Neugierde und ging in das Zimmer, das seine Einkäufe enthielt.
»Bösewicht! Mörder!« schrie in diesem Augenblick ein bleiches, hageres Weib, das mit zerrissenen Kleidern und mit einem Kind an der Brust die Treppe herabgelaufen kam. Ferapontow stürzte ihr nach, aber als er Alpatitsch erblickte, hielt er an, zog seine Weste zurecht, gähnte, reckte die Arme und ging mit ihm ins Zimmer.
»Wie? Willst du fort?«
Ohne zu antworten, musterte Alpatitsch seine Einkäufe und verlangte seine Rechnung.
»Das hat noch Zeit. Aber sage mir doch, was macht der Gouverneur? Was wird jetzt geschehen?«
Alpatitsch erzählte ihm, was er dort gesehen hatte.
»Wir werden vielleicht gute Geschäfte machen. Weißt du, Seliwanow hat neulich Mehl an die Armee verkauft, zu neun Rubel den Sack! … Willst du Tee?«
Während man anspannte, trank Alpatitsch mit Ferapontow einige Tassen unter gemütlichem Gespräch über Getreidepreise und Ernteaussichten. »Jetzt ist’s ruhiger geworden«, sagte Ferapontow. »Wahrscheinlich haben die Unsrigen gesiegt. Es ist befohlen worden, den Feind nicht hereinzulassen, und dabei bleibt’s.