Plötzlich wurde ein fernes, seltsames Pfeifen gehört, auf das ein dumpfes Rollen folgte, unter dem die Fenster zitterten. Alpatitsch verließ das Fenster und ging in die Straße hinab. Zwei Männer liefen nach der Brücke zu. Von allen Seiten ertönte jetzt scharfes Pfeifen. Kanonenkugeln fielen mit dumpfem Schlag nieder und dazwischen explodierten Granaten, welche wie ein Regenschauer in die Stadt fielen. Aber die Einwohner achteten noch wenig darauf, das Gewehrfeuer vor der Stadt interessierte sie noch mehr … Das war die Beschießung der Stadt, welche Napoleon befohlen hatte. Seit fünf Uhr morgens feuerten hundertunddreißig Kanonen unaufhörlich.
Die Frau Ferapontows, welche in einer Ecke der Scheune noch immer weinte, verstummte plötzlich und kam hervor, um zu sehen, was der Lärm bedeute und mit Vorübergehenden zu sprechen.
Die Köchin und der Krämer vom nächsten Laden traten zu ihr und alle verfolgten mit Spannung den Lauf der Geschosse, welche über ihre Köpfe wegflogen. Einige Männer gingen lebhaft sprechend vorüber.
»Welche Gewalt!« sagte der eine. »Das Dach ist in Späne zerschlagen worden!«
»Gut, daß du beiseite gesprungen bist, sonst hätte dich die Kugel niedergeschlagen«, sagte ein anderer. Bald sammelte sich eine kleine Volksmenge. Das scharfe Pfeifen der Kugeln und das Brummen der Granaten und Bomben verstärkte sich, aber fast alle Geschosse gingen über die Dächer weg.
Endlich stieg Alpatitsch auf seinen Wagen, und der Wirt beobachtete seine letzten Vorbereitungen, während die Köchin neugierig herbeikam, um zu hören, was vorging.
»Was, zum Teufel, hast du da zu gaffen?« schrie er sie zornig an, und sie zog sich erschrocken zurück. In diesem Augenblick ertönte wieder ein scharfes Pfeifen in nächster Nähe, mitten auf der Straße flammte etwas auf, es folgte ein heftiger Schlag und eine dicke Rauchwolke. Die Köchin fiel stöhnend nieder, Ferapontow lief auf sie zu, während die Weiber und Kinder schrien und sich mit bleichen Gesichtern um die Köchin drängten. Bald war die Straße leer. Die arme Köchin, welcher ein Granatsplitter die Rippen zerbrochen hatte, wurde in die Küche getragen, Alpatitsch, sein Kutscher, sowie die Frau und Kinder Ferapontows flohen erschreckt in den Keller. Unaufhörlich hörte man Kanonendonner und das Pfeifen der Granaten. Die Frau Ferapontows versuchte vergebens, ihre Kinder zu beruhigen, und fragte angstvoll nach ihrem Mann. Er sei in die Kirche gegangen, sagte man. Das Volk wolle eine Prozession mit dem wundertätigen Bild der heiligen Jungfrau veranstalten.
Gegen Abend ließ der Kanonendonner etwas nach. Der Abendhimmel war von Rauch verhüllt, welchen zuweilen die silberne Mondsichel mit ihren Strahlen durchdrang. Auf den beständigen Kanonendonner folgten einige Minuten Stille, dann vernahm man Schritte einer großen Menschenmasse und Geschrei und bald darauf auch das unheimliche Krachen einer Feuersbrunst. Die arme Köchin war verstummt. Soldaten liefen vorüber, nicht mehr in einzelnen Gruppen, sondern wie Ameisen, welche in ihrem Bau gestört wurden. Einige traten in den Hof des Gasthauses ein, um ein Regiment vorüber zu lassen, das sich plötzlich hier umgewendet hatte. Alpatitsch war aus dem Keller heraufgekommen und stand vor der Pforte. »Die Stadt wird vom Feind eingenommen! Fort! Fort!« rief ihm ein Offizier zu. »Keiner soll in die Häuser gehen!« schrie er zornig.
Alpatitsch rief seinen Kutscher und befahl ihm, aufzusteigen. Die ganze Familie Ferapontows kam in den Hof. Als die Weiber die düstere Glut der Feuersbrunst sahen, brachen sie in Klagegeschrei aus, das sogleich von der Straße her beantwortet wurde. Endlich war alles fertig und Alpatitsch fuhr langsam ab. Ein Dutzend Soldaten waren in Ferapontows Laden eingedrungen und füllten große Säcke mit Mehl, um sie fortzutragen. Der Eigentümer wollte sich zuerst auf sie stürzen, dann aber fuhr er mit den Händen in die Haare und rief mit tollem Lachen: »Nehmt es fort, Kinderchen, damit es nicht diese Teufel erwischen!« Damit begann er selbst, Säcke auf die Straße hinauszuwerfen.
»Rußland ist verloren!« schrie Ferapontow Alpatitsch nach. »Ich werde das Haus auch anzünden!« Er lief wie wahnsinnig in den Hof. Die Straße war von einem dichten Gedränge erfüllt, daß Alpatitsch nicht vorwärts kommen konnte. Er erwartete, wie die Frau und Kinder Ferapontows auf einem kleinen Wagen, einen günstigen Augenblick. Schon glänzten die Sterne am Himmel, als sie endlich im Schritt den Dnjepr erreichten, hier aber mußten sie wieder anhalten, da der Weg von Soldaten und Wagen eingenommen war. Die Trümmer eines Hauses und einiger kleiner Läden brannten noch, immer wieder flackerte die erlöschende Flamme neu empor und beleuchtete die erschreckten Gesichter der Menge.
»Alpatitsch!« rief eine bekannte Stimme.
»Väterchen Exzellenz!« rief er, mit Erstaunen seinen jungen Herrn erkennend.
»Was machst du hier?« fragte Fürst Andree auf seinem schwarzen Pferd.
»Ach, Exzellenz!« rief Alpatitsch in Tränen ausbrechend. »Ich… Ich… Sind wir denn verloren?«
»Was machst du hier?« wiederholte der Fürst.
Alpatitsch erzählte in wenigen Worten seine Erlebnisse. »Aber sind wir denn verloren, Exzellenz?« wiederholte er.
Fürst Andree zog sein Taschenbuch hervor, riß ein Blatt aus und schrieb mit einem Bleistift einige Worte an seine Schwester.
»Smolensk wird geräumt. In acht Tagen wird der Feind in Lysy Gory sein. Verlaßt es sogleich und geht nach Moskau! Schicke mir sofort durch einen Boten nach Uswjäsch Nachricht, daß Ihr abgereist seid.«
Kaum hatte er Alpatitsch diesen Zettel übergeben und noch einige mündliche Aufträge hinzugefügt, als ein starkes Krachen ertönte und das Feuer plötzlich erlosch, während dicke Rauchwolken sich erhoben. Das Dach war zusammengestürzt. Bald flammte das Feuer mit neuer Wut auf und beleuchtete alle die bleichen, müden Gesichter umher.
»Hurra! Hurra!« schrie ein Mann, der den Arm erhob. »Es ist geschehen, Kinderchen! Seht, wie es brennt!« »Das ist der Eigentümer« flüsterten einige Stimmen.
»Also höre, Alpatitsch«, fuhr Fürst Andree fort, »richte das pünktlich aus!«
153
Die Truppen setzten den Rückzug von Smolensk aus fort, vom Feind verfolgt. Am 10. August kam das Regiment des Fürsten Andree in der Nähe von Lysy Gory an. Eine drückende Hitze und Trockenheit herrschte schon seit drei Wochen. Das Getreide, welches nicht geschnitten wurde, vertrocknete auf dem Feld, und vergebens suchten die Kühe, vor Hunger brüllend, einige Gräschen auf den Feldern und an den ausgetrockneten Teichen. Auf den staubigen Straßen marschierten die Truppen in dichten Staubwolken von Tagesanbruch an, Wagen und Kanonen fuhren in der Mitte der Straßen, während die Infanterie sich an den Seiten hielt. Der Staub drang in die Nase, Augen und Lungen von Menschen und Tieren. Die Sonne war nur wie eine feurige Kugel durch den dichten, staubigen Dunst sichtbar. In allen Dörfern stürzten die Leute nach den Brunnen und schlugen sich um einen Tropfen schmutzigen Wassers.
Fürst Andree suchte nach Kräften für sein Regiment zu sorgen, aber jetzt erschien ihm alles in einem düsteren Licht. Smolensk hätte man nach seiner Ansicht verteidigen können und müssen. Sein Vater war krank und zur Flucht gezwungen aus diesem Lysy Gory, das der alte Fürst gebaut hatte und das er über alles liebte. Zum Glück wurde Fürst Andree durch die Sorge für sein Regiment von diesen düsteren Gedanken abgezogen. Rasch näherten sich die Franzosen Moskau. Thiers, der Geschichtsschreiber Napoleons, sucht die Fehler seines Helden zu verdecken, indem er behauptet, er sei gegen seinen Willen bis vor Moskau geführt worden, als ob die Ereignisse dieser Welt von dem Willen eines einzigen Menschen abhängen. Unsere Geschichtsschreiber hätten mit demselben Recht behaupten können, Napoleon sei durch die Geschicklichkeit unserer Generale nach Moskau gelockt worden. Der Verlauf des Krieges aber wird nicht von einem einzigen Willen gelenkt, sondern er ist das Resultat der Reibung und des Zusammenstoßes von tausend verschiedenen Willen und Leidenschaften, welche daran beteiligt sind.
Nachdem Napoleon Smolensk verlassen hatte, versuchte er vergebens bei Dorogobusch an der Wjäsma, dann