Rostow wollte sich der Fürstin nicht aufdrängen und erwartete ihre Abreise im Dorf. Als die Wagen sich in Bewegung setzten, stieg er zu Pferd und begleitete sie zwölf Werst weit bis Jankowo, das von unseren Truppen besetzt war. Dann nahm er respektvoll Abschied von ihr und küßte ihr die Hand zum erstenmal.
»Sie beschämen mich«, erwiderte er errötend auf ihre lebhaften Dankesworte, »jeder Landpolizeimeister hätte dasselbe getan. Wenn wir nur Bauern zu bekämpfen hätten, so wäre der Feind nicht so tief ins Land gekommen«, fügte er mit etwas verlegenem Ton hinzu, um das Gespräch abzulenken. »Ich bin glücklich, die Ehre gehabt zu haben, Ihre Bekanntschaft zu machen. Leben Sie wohl, Fürstin, empfangen Sie meine besten Wünsche für die Zukunft und erlauben Sie mir, die Hoffnung auszusprechen, daß wir uns unter günstigeren Umständen wiedersehen werden.«
Die Miene der Fürstin Marie strahlte in lebhafter Erregung und Rührung. Sie fühlte, daß sie ihm den größten Dank schuldig war. Was wäre ohne ihn aus ihr geworden? Wäre sie nicht unfehlbar zum Opfer der aufständischen Bauern geworden oder den Franzosen in die Hände gefallen? Hatte er sich nicht den größten Gefahren ausgesetzt, um sie zu retten? Und welche zarte Rücksicht hatte er für ihre Lage und ihren Schmerz gezeigt! Seine guten, ehrlichen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, als sie mit ihm gesprochen hatte, und das Andenken daran blieb in ihrem Herzen eingegraben. Als sie ihm Lebewohl sagte, hatte sie eine seltsame Regung empfunden, und sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon liebe. Ohne Zweifel widerstrebte es ihr, sich einzugestehen, welchen Eindruck ein Mann auf sie gemacht hatte, welcher sie vielleicht nicht einmal liebte, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß niemand es erfahren werde, und daß es kein Verbrechen sei, im geheimen das ganze Leben lang denjenigen zu lieben, der zum ersten-und letztenmal ihr Herz erregt hatte.
»Es mußte so sein, daß er nach Bogutscharowo kam, um mich zu befreien, es mußte sein, daß seine Schwester meinem Bruder absagte«, dachte sie. Sie sah den Finger Gottes in dieser Verkettung der Umstände und hegte dann ganz im Verborgenen die Hoffnung, daß dieses Glück, das sie kaum kennengelernt hatte, eines Tages Wirklichkeit werden könne.
Auch sie hatte einen milden Eindruck auf Rostow gemacht, und als seine Kameraden, welche von seinem Abenteuer Wind erhalten hatten, sich erlaubten, ihn ironisch zu beglückwünschen dafür, daß er nach Heu ausgeritten sei und dabei das Verständnis gehabt habe, eine der reichsten Erbinnen Rußlands zu entdecken, wurde er ernstlich zornig. Im Grunde seines Herzens aber gestand er sich, daß er nichts besseres wünschen könnte, als die sympathische Fürstin Marie zu heiraten. Diese Heirat konnte sein Glück und das seiner Eltern machen, und wie er unwillkürlich fühlte, auch das des sanften Wesens, das ihn seinen Retter nannte. Und andererseits hätte ihr großartiges Vermögen auch die Möglichkeit geboten, auch das Vermögen seines Vaters wiederherzustellen. Aber Sonja – der er sein Wort gegeben hatte? Die Erinnerung daran war es eben, was ihn so aufbrachte, wenn seine Kameraden über seinen Streifzug nach Bogutscharowo scherzten.
158
Kutusow hatte das Oberkommando der Armee angenommen. Er erinnerte sich des Fürsten Andree und berief ihn ins Hauptquartier. An dem Tage, als Kutusow eine große Parade abhielt, kam Fürst Andree in Zarewo-Saimischtsche an. Er setzte sich vor dem Pfarrhause auf eine Bank und erwartete Seine Durchlaucht, wie man jetzt den Obergeneral nannte. Zwei Leute von der Dienerschaft Kutusows, ein Kurier und ein Haushofmeister, benutzten einen Augenblick der Muße, um frische Luft zu schöpfen. In diesem Augenblick kam zu Pferd ein Husarenoberstleutnant von kleinem Wuchs, mit braunem Gesicht und mächtigem Schnurrbart und fragte Fürst Andree, ob hier Seine Durchlaucht wohne, und ob man ihn von der Revue bald zurückerwartete.
Andree erwiderte, er gehöre nicht zum Generalstab des Fürsten und sei erst seit wenigen Minuten hier. Der Husar wandte sich darauf an einen der Diener, welcher auf seine Frage mit der Herablassung antwortete, welche gewöhnlich die Leute des Oberkommandierenden tieferstehenden Offizieren gegenüber zeigen.
»Wer? Seine Durchlaucht? Wird gleich hier sein! Was wünschen Sie?«
Der Oberstleutnant lachte über diese Dreistigkeit, stieg vom Pferd, warf den Zügel seiner Ordonnanz zu und näherte sich grüßend Bolkonsky. Fürst Andree erwiderte seinen Gruß und machte ihm Platz neben sich auf der Bank.
»Sie erwarten auch den Oberkommandierenden?« sagte der Husar. »Man sagt, er sei zugänglich, das ist sehr glücklich! Wenn man mit diesen Wurstessern, den Deutschen, zu tun hätte, gäbe es kein Ende. Jermolow tat recht daran, als er den Kaiser bat, ihn zum Deutschen zu ernennen! Aber jetzt werden auch die Russen zum Wort kommen! Der Teufel weiß, was das werden soll mit diesen ewigen Rückzügen! Haben Sie den Feldzug mitgemacht?«
»Ich habe nicht nur dieses Vergnügen gehabt«, erwiderte Fürst Andree, »sondern auch verloren, was mir am teuersten war, meinen Vater, der aus Kummer starb, und dann auch mein Gut! Ich bin aus dem Gouvernement Smolensk.«
»Ah, Sie sind wahrscheinlich Fürst Bolkonsky? Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen! Ich bin Oberstleutnant Denissow! Ich habe davon gehört.«
Fürst Andree kannte Denissow aus den Erzählungen Natalies. Erinnerungen, welche in den letzten Monaten in seinem Gedächtnis sich verwischt hatten, erwachten aufs neue und verursachten ihm Schmerz und Freude zu gleicher Zeit. Auch in Denissow erweckte der Name Bolkonsky poetische Erinnerungen an den Abend, wo er, ohne zu wissen, wie, der kleinen, fünfzehnjährigen Natalie eine Liebeserklärung gemacht hatte. Er lachte, indem er sich an diesen Roman erinnerte, kam dann aber sogleich auf das Thema, das ihn jetzt allein interessierte. Es war ein Feldzugsplan, den er entworfen hatte, während er bei dem Vorposten stand. Er hatte ihn Barclay de Tolly übersandt und wollte ihn auch Kutusow vorlegen. Seinem Plan lagen folgende Gedanken zugrunde. Die Operationslinie der Franzosen war viel zu lang, man konnte also, während man ihrem weiteren Vorrücken sich entgegenstellte, zugleich ihre Verbindungen unterbrechen. »Sie können eine so große Operationslinie nicht halten«, sagte er sich, »mit fünfhundert Mann werde ich sie durchbrechen … Mein Ehrenwort, nur der kleine Krieg kann jetzt zum Ziele führen.«
Denissow hatte sich erhoben, um sein Projekt mit größter Lebhaftigkeit darzulegen, als er von den Hurrarufen und von Musik, welche näher kamen, unterbrochen wurde.
»Das ist er!« rief ein Kosak, der am Eingang des Hauses stand.
Andree und Denissow erhoben sich. Am Ende der Straße bemerkten sie Kutusow auf einem kleinen Pferd, der in Begleitung eines zahlreichen Gefolges von Generalen näher kam. Barclay de Tolly ritt neben ihm. Kutusow grüßte nach rechts und links, indem er die Hand an seine weiße Mütze ohne Schirm legte.
»Auf Wiedersehen, meine Herren«, sagte er und ritt durch die Pforte in den Hof. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich in die Arme der Kosaken und Adjutanten gleiten, die ihn unterstützten. Als er wieder auf den Beinen war, warf er einen Blick um sich und bemerkte Fürst Andree, aber ohne ihn zu erkennen. An der Haustür sah er nochmals nach Fürst Andree, und wie es bei Greisen öfter vorkommt, brauchte er einige Augenblicke, um den Namen dieser Gestalt zu finden, die ihm aufgefallen war.
»Ach, guten Tag, Fürst! Mein Freund, komm her!« sagte er mit Anstrengung und stieg mühsam die Stufen hinauf, welche unter seinem Gewicht krachten. Dann knöpfte er die Uniform auf und setzte sich auf eine Bank.
»Was macht dein Vater?« fragte er.
»Gestern erhielt ich die Nachricht von seinem Tod«, erwiderte Fürst Andree kurz.
»Friede sei mit ihm!« rief Kutusow, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich. »Ich habe ihn geschätzt und geliebt«, fügte er nach kurzem Schweigen mit einem Seufzer hinzu, umarmte den Fürsten Andree und drückte ihn lange an seine breite Brust.
»Nun, komm zu mir! Wir wollen ein wenig sprechen«, sagte er.
In diesem Augenblick stieg Denissow, der in Gegenwart seiner Vorgesetzten ebenso kühn war wie vor dem Feind, entschlossen