Die Gräfin erhob mit Entsetzen die Augen zum Himmel.
»Sieh doch«, rief der Graf, »was für ein Krieger! Aber lasse jetzt den Unsinn!«
»Das ist kein Unsinn, Papachen, Fedja Obolensky geht auch, und ich kann jetzt nichts lernen, solange das Vaterland in Gefahr ist!«
»Höre auf mit den Dummheiten!«
»Sie haben doch selbst gesagt, Sie wollen alles opfern!«
»Schweig!« rief der Graf. Die Gräfin blickte erbleichend ihren Sohn an.
»Peter Kirilitsch, kommen Sie rauchen!« sagte der alte Graf und nahm die Papiere zusammen, um sie in seinem Kabinett vor dem Einschlafen nochmals zu lesen.
Peter war verlegen und unschlüssig, die ungewöhnlich glänzenden, lebhaften Augen Natalies hatten ihn in diesen Zustand versetzt.
»Nein, ich werde nach Hause fahren«, sagte er.
»Nach Hause? Und Sie wollten doch zum Abend bleiben? Das ist jetzt solch eine Seltenheit! Und diese da«, sagte der Graf, auf Natalie deutend, »ist nur in Ihrer Gegenwart vergnügt.«
»Ja, ich habe vergessen – ich muß durchaus nach Hause!« sagte Peter hastig.
»Nun, denn auf Wiedersehen!« erwiderte der Graf und verließ das Zimmer.
»Warum wollen Sie gehen?« fragte Natalie.
»Weil ich dich liebe«, wollte er sagen, aber er senkte errötend die Augen. »Weil es besser ist… wenn ich seltener komme … weil… nun, weil ich zu tun habe …«
Natalie schwieg. Sie blickten sich beide erschreckt und verwirrt an und Peter beschloß, nicht wieder zu Rostows zu gehen.
Am anderen Tag kam der Kaiser. Einige der Dienstleute baten um Erlaubnis, ihn zu sehen. Petja kleidete sich an diesem Morgen sorgfältig an, machte Gebärden vor dem Spiegel und endlich setzte er die Mütze auf und verließ heimlich das Haus durch die Hintertür. Er hatte beschlossen, zum Kaiser zu gehen und irgendeinem Kammerherrn mitzuteilen, er, Graf Rostow, wolle zu den Husaren eintreten. Seine Jugend könne kein Hindernis sein, und er sei bereit… Er hatte eine Menge schöner Worte in Bereitschaft, um sie dem Kammerherrn zu sagen.
Petja rechnete sicher auf Erfolg, aber je weiter er ging, desto mehr verließ ihn seine angenommene Würde. Als er in den Kreml trat, wurde er von Leuten, welche wahrscheinlich von seinem patriotischen Vorhaben keine Ahnung hatten, so ins Gedränge gebracht, daß er nicht weiter konnte. Einige Zeit stand er wartend beim Tor und begann endlich, sich mit dem Ellbogen durchzuarbeiten. Aber ein Weib, das er angestoßen hatte, schrie ihn zornig an.
»Was stößt du da, mein Jüngelchen! Was fällt dir ein? Du siehst ja, alle stehen still!« Er wurde in einen übelriechenden Winkel am Tor gedrängt und wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn er fürchtete, wenn er in diesem Zustand sich dem Kammerherrn vorstellte, nicht zum Kaiser gelassen zu werden. Aber es war keine Möglichkeit, aus dem Gedränge zu kommen. Er wollte einen vorübergehenden General, einen Bekannten seines Vaters, um Hilfe anrufen, unterließ es aber als unnütz. Als die Equipagen vorübergefahren waren, riß die Menge Petja mit sich fort auf einen Platz, der bald ganz von Volk erfüllt war. Plötzlich drängte die Menge vorwärts und schrie: »Hurra! Hurra! Hurra!« Petja stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts sehen in dem Gedränge. Die Leute schrien und weinten vor Entzücken. »Unser Vater! Unser Schutzengel! Väterchen! Hurra!« riefen sie von allen Seiten. Einen Augenblick stand die Menge auf einer Stelle, dann aber stürzten wieder alle vorwärts. Petja biß die Zähne zusammen, arbeitete eifrig mit seinen Ellbogen und schrie: »Hurra!« Aber wilde Gesichter drängten von der Seite her und schrien auch: »Hurra!«
»Das also ist der Kaiser«, dachte Petja. »Nein, ich kann ihm selbst nicht meine Bittschrift übergeben, es wäre zu kühn!« Verzweifelt strebte er vorwärts, aber als die Menge von den Polizisten zurückgedrängt wurde, weil der Kaiser aus dem Schloß in die Kathedrale ging, erhielt Petja plötzlich einen solchen Stoß in die Rippen, daß seine Augen sich verdunkelten und er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, sah er, daß ein Kirchensänger ihn unter dem Arme hielt und mit der anderen Hand ihn gegen die Menge zu schützen suchte.
»Ihr habt das Söhnchen erdrückt!« sagte der Kirchensänger. »Nun, ist’s leichter?«
Der Kaiser trat in die Kathedrale, und die Menge beruhigte sich wieder. Der Kirchensänger führte Petja zu der großen Kaiserkanone, einige bedauerten ihn, man knöpfte ihm den Rock auf und setzte ihn auf das Postament der Kaiserkanone.
»So kann man einen Menschen erdrücken! Das ist abscheulich! Siehst du, er ist so weiß wie ein Tischtuch!« sagten verschiedene Stimmen. Petja kam bald wieder zu sich. Sein Gesicht rötete sich wieder. Er hatte den günstigen Platz bei der Kanone erhalten, von dem aus er den Kaiser bei der Rückkehr zu sehen hoffte. Er dachte nicht mehr an seine Bittschrift, er wollte ihn nur sehen.
Während des Gottesdienstes erschienen Verkäufer von Pfefferkuchen und Quas, und das Volk unterhielt sich auf seine Weise. Eine Kaufmannsfrau betrachtete ihren zerrissenen Schal und erzählte, wie teuer sie ihn bezahlt habe, zwei junge Burschen scherzten mit leibeigenen Mädchen, welche Nüsse knackten. Plötzlich hörte man vom Ufer her Kanonenschüsse zur Feier des Friedens mit der Türkei, und die Menge eilte dorthin, um beim Schießen zuzusehen. Petja wollte auch dorthin gehen, aber der Kirchensänger, der ihn unter seinen Schutz genommen hatte, hielt ihn davon ab. Während die Schüsse donnerten, kamen aus der Kathedrale eilig Offiziere und Kammerherren hervor, dann folgten noch andere etwas langsamer. Alle nahmen die Mützen ab, und die Leute, welche nach den Kanonen gelaufen waren, eilten wieder herbei. Endlich erschienen einige Generale mit reichen Ordensbändern. »Hurra! Hurra!« schrie wieder die Menge. »Welcher ist’s?« fragte Petja mit weinerlicher Stimme, aber niemand antwortete ihm, alle waren zu entzückt. Die Menge rief dem Kaiser zu, begleitete ihn bis zum Schloß und begann darauf sich zu zerstreuen. Es war schon spät, Petja hatte noch nicht gegessen, aber er blieb vor dem Schloß stehen während der kaiserlichen Tafel und wartete noch immer.
Nach Tisch sagte Walujew: »Das Volk hofft noch immer, Eure Majestät zu sehen!« Der Kaiser erhob sich, während er ein Stück Biskuit aß, und ging auf den Balkon. Das Volk stürzte mit Petja auf den Balkon zu.
»Engel! Väterchen! Hurra!« rief das Volk und einige vergossen Tränen des Entzückens. Ein ziemlich großes Stück Biskuit fiel aus der Hand des Kaisers auf das Geländer und dann auf die Erde herab. Ein in der Nähe stehender Kutscher stürzte auf das Stück Biskuit und ergriff es, noch andere warfen sich auf den Kutscher, um es ihm zu entreißen. Als der Kaiser dies merkte, befahl er, einen Teller mit Biskuit zu bringen und warf sie alle vom Balkon herab. Trotz der Gefahr, erdrückt zu werden, suchte Petja ein Biskuit zu erwischen und warf ein altes Weib um, das auch eins auffangen wollte. Aber sie hielt sich nicht für besiegt, obgleich sie auf der Erde lag, sie hatte ein Biskuit erhascht. Petja stieß mit dem Knie ihren Arm zurück, erfaßte das Biskuit und schrie wieder: »Hurra!« mit heiserer Stimme, der Kaiser verließ den Balkon und der größte Teil des Volkes zerstreute sich. So glücklich Petja war, ging er doch mit betrübtem Herzen nach Hause. Er erklärte noch einmal entschieden, er werde davonlaufen, wenn man ihn nicht zu den Husaren lasse, und am anderen Tag fuhr der alte Graf aus, obgleich er noch nicht ganz nachgegeben hatte, um sich zu erkundigen, wie man Petja irgendwo in Sicherheit unterbringen könnte.
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Drei Tage später, am 15., standen beim Schloß im Kreml zahlreiche Equipagen.
Die Säle waren gedrängt voll, in dem ersten waren die Edelleute in Uniformen, in dem zweiten die Kaufleute in blauen Kaftanen, mit Medaillen und langen Bärten. Im Saal der Adelsversammlung herrschte eine geräuschvolle Aufregung. An einem großen Tisch, unter dem Porträt des Kaisers, saßen auf Stühlen mit hohen Lehnen die höchsten Würdenträger, die meisten Adligen aber gingen im Saal umher. Alle