Langsam stülpe ich Mund und Speiseröhre über das Würstel
Eine alte Dame betritt das Lokal
Entschuldigen Sie, gnädiger Mantel, sage ich höflich,
darf ich Ihnen von der Dame herunterhelfen?
Oh, das ist aber nett, junger Mann, sagt die Dame,
könnten Sie mir auch die Speisekarte vorlesen
Mein Glasauge ist angelaufen!
Leider lese ich es ihr ganz vergeblich vor, denn ihr Hund
trägt ihr Hörgerät
Nach der Sperrstunde hilft mir die alte blinde Frau über die Straße
Da stelle ich plötzlich fest:
Das ist gar keine alte Frau
Das ist die Ulli Czermak
Sie krallt sich an meinem Arm fest und schleift mich zur Kanzlei
wie einen Schulbuben
Erst im Hof lässt sie mich aus
Hilfsbereit, wie ich bin, bringe ich dem Raschhofer den
Müll mit hinauf
Dann sitze ich in meinem Zimmer
Ich klopfe an die Zimmertüre und warte,
bis jemand HERAUS ruft
Was immer jetzt passiert
ich sage nichts ohne meinen Mandanten
Mein Blick fällt auf den Terminkalender
Heute ist schon der 18. Dezember
der achtzehnte Dezember?
ich dachte es gibt nur einen pro Jahr …
Der achtzehnte Dezember!
Ich muss sofort aufstehen.
Ich blättere hektisch im Terminkalender: In einer Stunde muss
ich in der Kanzlei sein.
Mein Kopf dreht sich und sendet Sterne und Blitze aus wie
eine Discokugel.
Ich werde heute sterben.
Diesen Tag überlebe ich nicht.
Ich gehe, mit einer Hand an die Wand gestützt, auf die Toilette
und knie mich vor die Muschel.
Eine Marillenerscheinung.
Vorzeitiges ENDE.
Zu den angenehmen Seiten meines Berufslebens gehört, dass ich nicht morgens pünktlich zum Dienst erscheinen muss. Solange ich meine Termine wahrnehme und meine Akten korrekt abarbeite, fragt mich niemand, wo ich mich gerade herumtreibe. Zumal ich, abgesehen von meinem Mittagessen im Gasthaus Horacek, den Tag grundsätzlich in meinem Hinterzimmer verbringe, meist noch lange, nachdem die anderen gegangen sind. Der Dr. Prucha geht gerne gleich in der Früh Tennis spielen und danach zum Frühstück ins Café Landtmann. Wenn ich also ab und zu erst am späteren Vormittag auftauche, fällt das niemandem auf.
Heute bin ich erst um Viertel vor neun aufgewacht. Gestern habe ich – nach langer Abstinenz – wieder zwei GläserWelschriesling getrunken, um beim Heurigenabend mit Tante Resi und Bruni Anzeichen eines Tourette-Syndroms zu unterdrücken. Einen Wecker hatte ich mir gar nicht gestellt. Mein erster Termin ist heute um elf, das hab ich noch mit schläfrigem Blick im Taschenkalender nachgesehen, bevor ich endlich auf meiner Couch eingeschlafen bin. Mit einem unbenutzten, ausgebreiteten Taschentuch auf meinem Bauch.
Die Straßenbahn zuckelt dahin wie in einem Kindermärchenpark. Aber ich fühle mich frei, ohne meinen übergewichtigen Volvo. Auch der Prucha zweigt gerne in der Früh eine Stunde Arbeitszeit ab und geht ins Café Landtmann Zeitung lesen. Natürlich nur das Rechtspanorama und ähnliches, wie er behauptet. Also werde ich mir ein kleines Frühstück im Café Tirolerhof genehmigen. In meinem Lieblingskaffeehaus, wo die Ober noch die perfekte Mischung aus Schmäh und Distanz beherrschen. Dort sitze ich oft nach Dienst und gebe mich meiner Leidenschaft, dem Dichten hin. Entweder ich arbeite an einem meiner Dramolette, in denen ich oft die Stoffe aus meinen Akten einarbeite. Oder ich kritzle ein paar Schüttelreime in mein Moleskine-Heft.
Ich kriege einen weißen Bart, während ich auf was zum Beißen wart.
fällt mir ein, als der Ober zum zweiten Mal mit seinem Tablett voller Wassergläser an mir vorbeisteuert, ohne die von mir ersehnte Buttersemmel zum Verlängerten.
Der Dr. Prucha weiß von meiner Leidenschaft und steuert auch ab und an einen Reim bei:
Mach es wie die Nobelhur’, zähl die vollen Stunden nur.
Damit spielt er auf seine Anweisung an, Mandanten in jedem Falle reden zu lassen, solange die Uhr nach Tarifordnung mitläuft. Der steirische Bauunternehmer, der Herr Pölzl, ist zum Beispiel genau der Typ Mandant, den der Anwalt seinen ganzen privaten Kram erzählen lässt, um ihm dann jede Minute zu verrechnen. Und Erwin Pölzl ist an Umständlichkeit und Langatmigkeit nicht zu übertreffen. Erwin Pölzl ist ein Musterbeispiel für vollkommen ajuristisches Denken. Ein derartiger Mangel an Trennschärfe ist mir selbst bei unseren geistig vollkommen unterbelichteten Mandanten mit Verfahrenshilfe noch nicht untergekommen. Ein Bündel aus den wenigen, zum Überleben eines Organismus erforderlichen Instinkten dirigiert hier einen mastbullengroßen Homo styriensis. Herr Pölzl ist Steirer aus Überzeugung, als wäre der Rest der Menschheit eine hochgezüchtete und zugleich degenerierte Abart seiner Spezies. Dass er sich vom Hilfsarbeiter zum Bauunternehmer hochgearbeitet hat, ist der Beweis, dass selbst in unserer Gesellschaft mit reinem Fleiß noch etwas zu machen ist.
Interessant – sagt mein psychoanalytisch getrimmtes Gehirn.Warum denke ich gerade so intensiv an den Herrn Pölzl? Aber um das festzustellen, braucht es keine Psychoanalyse: Herr Pölzl ist zufällig auch im Café Tirolerhof. Er scheint mich nicht erkannt zu haben. Gerade hat er sich seinen Lodenmantel von der Garderobe geholt. Er ist allein, und ich weiß warum. Weil sich seine Frau von ihm getrennt hat. Die Akte mit seiner Ehescheidung liegt auf meinem Schreibtisch. Bald werde ich wieder einen Termin mit Herrn Pölzl haben, bei dem er mir vollkommen irrelevante Details aus seiner gescheiterten Ehe erzählen wird und über die Frauen allgemein. Das alles werde ich mir demnächst wieder anhören und heimlich auf die Uhr sehen. Bald? Demnächst ... oder ...!
»Zahlen!« Ich rase zum Kleiderständer und bekomme beim Tortenbuffett auch gleich den Ober zu fassen. Ich bezahle die Buttersemmel gleich mit, die fertig beschmiert in der Küche steht. Halb draußen, drehe ich dann noch einmal um, lasse mir die Buttersemmel einpacken und bereue es im nächsten Moment wieder, als die Küchenhilfe die Semmelhälften übereinanderpappt, umständlich in eine Serviette wickelt und dann in Stanniolpapier einrollt. Nicht durchdrehen, Dr. Just, ganz ruhig. Mein Termin um elf ist nicht die Immobilienmaklerin Gerlinde Haslinger, für die wir alle Verträge machen. Die ratscht sowieso immer erst eine halbe Stunde mit dem Dr. Prucha. Mein Termin ist Herr Pölzl. Und der kommt pünktlich. Eben steigt er in seinen Offroader mit Grazer Kennzeichen, den er gleich auf dem Gehsteig vor dem Café geparkt hat, unverschämt, wie er ist. Ich brauche mich bloß durch die Altstadt bis zum Luegerplatz durchzukämpfen, während der Pölzl erst um drei Viertel der Ringstraße herumfahren muss. Das könnte sich ausgehen. Aber der Herr Pölzl ist stolz darauf, dass er fährt wie die Wildsau und sogar vorm Blindenheim am Zebrastreifen parkt. Wir haben dafür den Beweis in seinem Akt vom Führerscheinentzug.
Ich remple einen Rübezahl an, der mit ausgebreitetem Stadtplan aus einer Gruppe von Trachtenträgern herausragt, reiße mein Handy aus der Tasche, um die Frau Czermak anzurufen, dann stecke ich es wieder ein. Besser es erfährt niemand, dass ich einen Termin vergessen hab. Ab dem Stephansplatz versuche ich gar nicht mehr, halbwegs Würde zu bewahren, und renne wie ein frisch ertappter Ladendieb.
Und während ich so renne, wird mir wieder einmal