Der Paragrafenreiter. Ludwig W. Muller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig W. Muller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902862587
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der Pichler ist geschieden und der Krall genauso chronisch unbeweibt wie ich.

      Leider fällt mir grade überhaupt nichts Lustiges zum Thema »Kaffeefahrt« ein. Vor mir liegt eine Sammelklage von den Teilnehmern einer solchen Werbeverkaufsfahrt, bei der ihnen, von der Heizdecke bis zum Biokosmetikkoffer, alles angedreht wurde. Wer ist nach allen Konsumentenschutzsendungen noch immer so bescheuert und fährt bei sowas mit? Hätten die doch meine Münchner Tante Thérèse dabeigehabt, da wäre der Bus mit den Rentnern alleine zurückgekommen, während der Heizdeckenverkäufer mit der Leine an der Leitplanke hängte.

      Tante Thérèse fällt mir nicht zufällig ein. Wenn ich den Krempel auch nur einigermaßen gesichtet habe, werde ich wieder der Letzte in der Kanzlei sein. Und zum Ausklang des Tages lädt mich meine 78-jährige Tante Thérèse zum Heurigen Zavolal ein, gemeinsam mit ihrer Wiener Freundin Bruni. Als Ausgleich für einen ziemlich unlustigen Werktag darf ich mir die fiesen Klatschgeschichten anhören, die meine Tante mit der verbiesterten, damenbärtigen Besitzerin eines Kurzwarengeschäfts auszutauschen hat. Ist das nicht ein herrliches Leben für einen »Akademiker, alleinstehend, 42?«

      »Kreativ« (ich bin Mitglied des Vereins der Freunde des Schüttelreims).

      »Sternzeichen: Löwe. Aszendent: Jungfrau« (das passt schon eher).

      »Hobbys: Theater, private Rechtsfälle lösen« (Scrabble mit Tante Thérèse erwähne ich hier nicht).

      »Sport: ab und zu Schwimmen, Wandern« (seit einigen Jahren eigentlich nur mehr im Rahmen meiner Reha-Aufenthalte wegen meines Rückens).

      Wer traut sich, meine »Damen zwischen dreißig und fünfzig, gebildet und humorvoll, sexuell eher unerfahren und ungebunden?

      Ich habe schon mehrmals Partnerschaftsanzeigen verfasst. Aber nur einmal habe ich auch tatsächlich eine geschaltet. Das Ergebnis war ein unvergesslicher Abend mit einer zweifach geschiedenen 55-jährigen Architektin. Sie hatte eine blitzblaue Designerbrille auf, kurzes, kupferrot gefärbtes Haar und riesige Säbelzähne, durch die sie mir permanent beim Reden in den Salat spuckte. Kurz nach unserem Treffen bekam Ute einen schizophrenen Schub und erzählte mir, sie habe ein Medikament gegen Homosexualität entwickelt, dass ich unbedingt sofort einnehmen müsse. Außerdem mache sie der Stadt Wien ein Offert für eine spezielle Schutzwand, die gegen Radioaktivität abschirmt.

      Nachdem ich wegen Ute mein Festnetz abgemeldet hatte, versuchte ich es eine Zeitlang wieder wie alle anderen. Nach der Arbeit beim Afterwork-Clubbing oder in einer der einschlägigen Innenstadt-Bars. Ein paar Gesichter aus meiner Arbeitswelt wiedererkennen und ein Pseudogespräch anfangen. Und dabei ganz nebenbei die unbekannte Frau hineinverwickeln, die dabei steht und einem kurz höflich zugelächelt hat. Bei mir hat sich dieser Aufwand noch kein einziges Mal gelohnt. Kaum habe ich ein paar verkrampfte Worte gewechselt, wendet sich mein Gegenüber ab und holt sich etwas von der Bar oder fischt das Handy aus der Tasche wegen eines angeblich ganz dringenden Gesprächs. Mit einem künstlichen »Sorry, ich muss kurz ...« oder auch einfach kommentarlos. Ohne Alkohol ist diese Prozedur nicht machbar. Trinke ich aber, um meine Hemmschwelle zu überschreiten, werde ich meist so peinlich, dass ich am nächsten Tag unrasiert im Büro erscheine. Mein Badezimmerspiegel ist nämlich mein größter Feind und sagt mir am liebsten gleich am Morgen, was er von mir hält. Obwohl mein Gesicht gar nicht so unansehnlich ist, findet sogar mein Kollege, der Raschhofer. Wenn man von meinem Just-Zinken und meinem etwas breit angelegten Mundwerk absieht.

      »Ferdinand, du hast markante Gesichtszüge, aber am Aussehen kann es nicht liegen. Charles Bronson hatte auch an jeder Hand zehn Frauen. Besorg dir einmal eine modische Panier’ statt deinem mausgrauen Anzug und spiel deine Qualitäten aus.« Dieser Schleimer sondert doch bloß sein Sekret ab, weil ich ihm regelmäßig seine Recherchearbeit abnehme, wenn er früher gehen will. Aber immerhin hat er mich schon einmal ganz konkret mit einer angeblich jederzeit willigen Rechtspraktikantin verkuppelt. Das Ergebnis war desaströs. Und der Dr. Reisinger-Jakoby hatte wieder jede Menge Material, um die wahren Gründe meines Versagens zu analysieren.

      Es wird schon dunkel, als ich den Querbalken am Sicherheitsschloss der Kanzlei einrasten lasse. Tante Thérèse hat vermutlich schon mein Hemd gebügelt für heute Abend. Meiner eigenen Haushaltsführung traut sie nicht. Sie ist wieder für ein paar Tage aus München angereist und wohnt in ihrer Zweitwohnung, in der Anton Frank-Gasse. Von da aus kontrolliert sie das Geschäft mit ihren Wiener Immobilien und drangsaliert deren Bewohner. Vor allem mich.

      Das Leben eines Anwalts in einer Topkanzlei habe ich mir eigentlich anders vorgestellt.

      Seit der letzten Weihnachtsfeier unserer Kanzlei habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, mittlerweile fast ein halbes Jahr lang. Sogar bei Tante Thérèse in München habe ich erfolgreich das Bier zum Krustenbraten verweigert, mit der Begründung, ich müsste erst wieder unter neunzig Kilo kommen. Aber heute ist der erste Maiabend, der die Bezeichnung verdient. Und mein Tanterl wird darauf bestehen, dass ich ihr zu Liebe mit einem Veltliner anstoße. Wenigstens laufe ich dort, in Gegenwart zweier giftsprühender alter Schachteln, bestimmt nicht Gefahr, dass so ein Abend in einem Drogenexzess eskaliert. Wie seinerzeit nach unserer Kanzleifeier im Heurigen-Restaurant Schreibmüller.

      Alkohol verändert mich innerhalb weniger Minuten und macht aus mir einen Springbrunnen an Redseligkeit und Aufgedrehtheit. Auf einmal macht es mir nichts mehr aus, mit anderen Menschen ganz eng an einem Tisch zu sitzen. Sogar wenn der Prucha freundschaftlich seinen Arm auf meine Schulter legt, macht es mir nach einem Viertel Wein nichts mehr aus. Oder wenn der Raschhofer diese Begrüßung macht, wo man sich erst links und rechts auf die Backen küsst und dann den Rücken reibt, bis es nach verbrannter Haut riecht (dazu braucht es allerdings schon zwei Viertel). Reicht denn der gute, alte Handschlag nicht mehr? Wenn ich mir heutzutage eine Zeitung kaufe und mit dem Trafikanten drei Sätze übers Wetter wechsle, müssten wir uns korrekterweise schon mit einem innigen Zungenkuss verabschieden.

      Natürlich wissen meine Kollegen in der Kanzlei um die Wirkung, die der Alkohol auf mich hat. Und darum hat der Prucha an diesem legendären Abend gleich einen Liter Weiß nach dem andern auffahren lassen. Es gibt ja in besseren Heurigen auch schon eine richtige Weinkarte, mit fünf verschiedenen. Auch der Nobelheurige Schreibmüller hat wahrscheinlich drei oder vier verschiedene Weine, aber er serviert sie gleich alle zusammen in einer Karaffe als Cuvée. So war es auch an jenem legendären Abend kurz vor Weihnachten, an dem nach der ersten Runde MarillenEdelbrand die Phase zwei meiner Trunkenheit einsetzte.

      Da habe ich nämlich begonnen, die Stunde zu nutzen und »Wahrheiten auszusprechen, die einfach mal gesagt werden sollten«. Dass sie das auf keinen Fall sollten, beweist schon die Tatsache, dass unsere distinguierte Frau Dr. Friederikowitsch sich jedesmal verabschiedet, bevor in der allgemeinen Trunkenheit das Niveau auf Grund läuft. Nämlich dann, wenn der Prucha wie jedes Jahr das kollektive Du anbietet, und zwar »allen, die ihre ganze Leistungsfähigkeit in diese Kanzlei investieren und mir ihre Karriere anvertrauen. Ich danke euch …« Da per Sie zu bleiben somit bedeuten würde, nicht die ganze Leistungsfähigkeit zu investieren, applaudierten alle ergriffen und duzten den Chef. Einzig unsere zwei ehrgeizigen Junganwälte, der Marxer und der Swoboda, schmierten demonstrativ unbeteiligt Knoblauchaufstrich auf ihre Brotlappen. Prucha & Friederikowitsch ist für sie eine Station auf der Karriereleiter, und nicht die Endstation, wie für mich. Aber in einer urtümlichen Wiener Buschenschank können wir viel eher einmal »menschlich« werden, wie er sagt. Leider trinkt die Ulrike Czermak immer nur roten Traubensaft aufg’spritzt und bleibt auch noch bis zum Schluss sitzen. Meinen Amok an Peinlichkeit hat sie also vollkommen nüchtern mitgekriegt.

      Chronologisch gesehen befinden wir uns bei der Wiedergabe des betreffenden Abends noch in Phase zwei der Berauschung. Zu den Wahrheiten, die an diesem Abend einmal gesagt werden mussten, gehört etwa, dass alle Jäger Trottel sind (O-Ton ich), aber auch, dass alle Gegner der Jagd Volltrottel sind (O-Ton Raschhofer). Natürlich ist der Raschhofer selber gar kein Jäger. Aber er hat sich eben beim Prucha eingeschleimt, indem er glaubwürdig darlegt, dass es längst keinen geschlossenen Baumbestand mehr gäbe, wenn man das Wild nicht regelmäßig dezimiere. Und nachdem der Prucha zustimmend genickt hatte, hat er gleich noch mehr Sekret abgesondert