IV. Andere Kompetenzkontrolleure?
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Umfassende Selbstkontrolle
Jede Kompetenzwahrnehmung ist zugleich auch konkludent ein Vergewissern über das Vorliegen einer Kompetenz. Deswegen sind im Normsetzungsverfahren auch Rat, Europäisches Parlament, Kommission und andere Beteiligte Kompetenzkontrolleinrichtungen. Der Rat ist dabei in besonderem Maße die Institution, in der Belange aus den Mitgliedstaaten geltend gemacht werden können.
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Rolle der nationalen Parlamente bei der Kompetenzkontrolle
Nach vereinzelten frühen – erfolglosen – Versuchen, aus den nationalen Parlamenten heraus Akte der Gemeinschaft aus Kompetenzgründen anzugreifen,[220] bieten heute etliche Bestimmungen auf Vertrags- und Verfassungsebene den nationalen Parlamenten institutionalisierte Kompetenzkontrollmöglichkeiten, die allerdings auf das „Wie“ der Kompetenzwahrnehmung ausgerichtet sind (Subsidiaritätsrüge und -klage).[221] Diese sind bis auf vereinzelte Fälle[222] kaum genutzt worden.
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Ungeeignetheit weiterer Kontrollinstanzen
Daneben sind immer wieder weitere politische oder gerichtsförmige Instanzen vorgeschlagen worden – gerade auch von Richtern des BVerfG.[223] Dazu ist festzuhalten, dass mit dem EuGH bereits ein Kompetenzgericht besteht und demgegenüber die Nachteile genuin neuer Institutionen überwiegen.[224] Der judizielle Dialog bzw. das ständige Gespräch zwischen den Gerichten der verschiedenen Ebenen im Wege des Vorlageverfahrens[225] dürfte nach wie vor großes Konfliktlösungspotential aufweisen.
F. Schlussbetrachtung
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Konsolidierung der Kompetenzordnung
Insgesamt ergibt sich das Bild einer durch zahlreiche positive und negative Kompetenzbestimmungen eingehegten europäischen Hoheitsgewalt, für die die Wirkweise der Kompetenzen immer besser verstanden wird. Mit dem Vertrag von Lissabon scheinen ab 2009 die ganz grundsätzlichen Kompetenzdebatten abgeflaut zu sein. Sogar die kritische Durchsicht der europäischen Kompetenzordnung der britischen Regierung im Kontext des Brexit („Balance of Competences Review“[226]) hat trotz gegenteiligen Suchauftrags nach sinnvollen Kompetenzrückübertragungsmöglichkeiten nach mehr als zwei Jahren nichts Substantielles ergeben.
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Verbleibende Interpretationsspielräume
Zwischen in der Realität auftretenden Sachfragen und in Texten niedergelegten Kompetenzthemen werden indessen immer Interpretationsspielräume bleiben. Entscheidend für die Stabilität des Rechts dürfte dabei wie in den meisten Mehrebenensystemen letztlich auch für die EU als Rechtsgemeinschaft die Akzeptanz einer maßgeblichen Instanz bei Kompetenzstreitigkeiten sein.
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Offene Fragen
Auch Interpretationsspielräume haben jedoch Grenzen, und es sind längst nicht alle Kompetenzfragen geklärt. So hat sich seit Beginn der Eurokrise 2010 immer wieder die Frage gestellt, ob auf europäischer Ebene ausreichende Kompetenzen zur Bewältigung der Krise bestehen, insbesondere im Bereich der Wirtschaftspolitik. Wegen der Corona-Krise erscheint die begrenzte Unionskompetenz in Gesundheitsfragen in einem deutlich ungünstigeren Licht als früher. Auch die Frage ob und wie sich die Union im Zuge der Krisenbewältigung selbst verschulden kann, ist – wiederum – eine Kompetenzfrage.[227] Die Kompetenzordnung wird sich auch zukünftig weiterentwickeln.
G. Bibliografie
Ninon Colneric, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Kompetenzgericht, EuZW 2002, S. 709–715.
Alan Dashwood, The Limits of European Community Powers, EL Rev 21 (1996), S. 113–128.
Franz C. Mayer, Competences – Reloaded? The Vertical Division of Powers in the EU after the New European Constitution, ICON 3 (2005), S. 493–515.
ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000.
ders., Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577–640.
ders., Die Europäisierung des Verwaltungsrechts, in: FS für Ulrich Battis, 2014, S. 47–62.
ders., Der Ultra vires-Akt. Zum PSPP-Urteil des BVerfG v. 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15 u. a., JZ 2020, S. 725–734.
Martin Nettesheim, Kompetenzdenken als Legitimationsdenken. Zur Ultra-vires-Kontrolle im rechtspluralistischen Umfeld, JZ 2014, S. 585–592.
Ingolf Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866–876.
Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008.
Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983.
H. Abstract
1. | This chapter deals with the attribution and delimitation of competences in the European Union. The analysis focuses on legislative powers, as judicial and executive powers are discussed elsewhere in this volume (par. 1–3). |
2. | The delimitation of powers and competences is a classical topic of federalism. However, the European Union is not a federal structure. This and the complexity of the issue justify a closer look at concepts and approaches related to competences (par. 4–39). |
3. | First of all, the term and the concept of Kompetenz are quite fuzzy and ambiguous, which is also reflected in the fact that translations such as “competence” fail to capture the specific German connotations of Kompetenz. As a working definition, I suggest that competences may be understood as powers of public authority that are limited and attributed specifically to defined enti ties, in short: a legal title to generate legally relevant decisions (par. 4–7). |
4. | Competence provisions may take the form of positive attributions (defining what the entity is allowed to do) and negative provisions (defining what the entity is not allowed to do) (par. 8–15). |
5. | There is also an established distinction between provisions that deal with the attribution and delimitation of powers and competences (the “if” of competence) and provisions concerning the exercise of powers and competences (the “how” of competence). Examples of the latter are the principles of subsidiarity and proportionality, dealt with in detail elsewhere in this volume (par. 16–18). |
6. | The cornerstone of the European allocation of legal competences is the principle of conferral, laid down in Art. 5 TEU. It stipulates that the EU may act only within the limits of the competences that the Member States have conferred upon it in the Treaties, while all other powers and competences remain with the Member States (par. 19–20). |
7. | The concept of the attribution of competences raises the question of who has the competence to decide on competences, who has the Kompetenz-Kompetenz? Although this term from German federal theory of the 19th century is fascinating not least because of its potential infinity (who has the Kompetenz-Kompetenz-Kompetenz?), it has no added explanatory value that goes beyond the principle of conferral (par. 21–24). |