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Binnenmarktbezug
Die Angleichungsmaßnahmen bedürfen neben dem grundsätzlichen Harmonisierungserfordernis eines Binnenmarktbezugs. Dieser kann sich einerseits aus der Verwirklichung der Grundfreiheiten im Sinne des Art. 26 AEUV – hier wird die Wechselwirkung zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten besonders deutlich[154] – oder aber nach gefestigter Rechtsprechung[155] aus dem Abbau von Wettbewerbsverzerrungen ergeben. An dieser Stelle wird die Inkongruenz zwischen mitgliedstaatlicher Verwaltungsrechtsordnung und unionsrechtlicher funktionaler Zuweisung besonders deutlich: Für die Bejahung des Binnenmarktbezugs ist weitestgehend irrelevant, welcher Sachmaterie die Regelung auf mitgliedstaatlicher Ebene zugewiesen ist, solange die unionale Regelung zur Verwirklichung der Grundfreiheiten oder dem Abbau von Wettbewerbshindernissen dient. So wurde beispielsweise die Arzneimittelrichtlinie[156] mit ihren Auswirkungen auf das nationale Arzneimittelverwaltungsrecht ebenso auf Art. 114 AEUV gestützt wie die SRM-Verordnung,[157] die das Kapitalmarkt- und Bankenrecht betrifft.
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Effektivierung bis zur Staatshaftung
Die Effektivierung von auf die Harmonisierungskompetenz gestützter Richtliniengesetzgebung hat sogar bis zu einer europarechtlichen Ergänzung der mitgliedstaatlichen Staatshaftungsrechtsinstitute geführt. In der Rs. Francovich[158] stellte der EuGH den Grundsatz auf, dass sich die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen schadensersatzpflichtig machen, wenn sie schuldhaft ihrer Richtlinienumsetzungspflicht nicht nachkommen. Ausgangspunkt war dabei eine auf eine Vorläuferbestimmung von Art. 114 AEUV gestützte Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.[159] Weil eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie ebenso wenig in Betracht kam wie eine Effektivierung der Richtliniengehalte im Wege der Konformauslegung, entwickelte der EuGH einen Haftungsanspruch gegen den Europarecht verletzenden Mitgliedstaat. Wie dieser Anspruch in das nationale Staatshaftungssystem einzupassen ist, bleibt dabei den Mitgliedstaaten überlassen.[160]
II. Beispiel Umweltgesetzgebung
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Europäisiertes Umweltrecht
Die Umweltpolitik ist einer der Rechtsbereiche, der seit den 80er Jahren eine besonders rege europarechtliche Überformung erfahren hat.[161] Ausgehend vom unionalen Kompetenzthema Umweltschutz werden auf Mitgliedstaatenebene diverse Bereiche des allgemeinen und des besonderen Verwaltungsrechts überlagert. Die Union kann ihre Gesetzgebungsvorhaben dabei auf Art. 114 AEUV und/oder auf Art. 192 AEUV stützen, abhängig vom Regelungsschwerpunkt.[162]
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Beispiel Umwelthaftung
Ein prominentes Beispiel ist die auf Art. 175 EGV (heute Art. 192 AEUV) gestützte Richtlinie zur Umwelthaftung,[163] welche eine verschuldensunabhängige Haftung des Betreibers bei bestimmten umweltschädlichen Tätigkeiten formuliert. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, geeignete Regelungen zu erlassen, welche potenzielle Verursacher zur Vornahme präventiver Schutzmaßnahmen wie Vorsorge und Absicherung etwaiger Risiken durch das Abschließen geeigneter Versicherungen verpflichtet.[164] Zur Umsetzung der Richtlinie wurde das USchadG[165] erlassen, welches in § 4 USchadG Informations-, in § 5 USchadG Gefahrenabwehr- und in § 6 USchadG Sanierungspflichten normiert. § 7 USchadG bildet die Ermächtigungsgrundlage für verwaltungsrechtliches Tätigwerden der nach nationalem Recht zuständigen Behörden zur Überwachung und Durchsetzung der in §§ 4 bis 6 USchadG normierten Pflichten.
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Weitere Beispiele
Andere Beispiele[166] sind Richtlinien[167] zur Vermeidung von Emissionen aus Industrieanlagen in Luft, Wasser und Boden. Diese Richtlinien sorgten für eine Verschärfung zulässiger Emissionsgrenzwerte, den verstärkten Einsatz bester verfügbarer Techniken und erweiterten die Überwachungs- und Sanierungspflichten der Betreiber gefährlicher Anlagen.[168] Niederschlag fand die Umsetzung dieser Richtlinien im BImSchG, WHG und KrWG.
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Überlagerung nationalen Verwaltungsprozessrechts
Die Luftqualitätsrichtlinie[169] verpflichtet Bund, Länder und Gemeinden zur Aufstellung von Luftreinhalteplänen. Bei der Feststellung von Überschreitungen der festgelegten Grenzwerte sind Aktionspläne zu erstellen, bei deren Nichtaufstellung dem Bürger ein individuelles Klagerecht auf Tätigwerden zusteht.[170] Dies ist ein Beispiel für die Überlagerung nationalen Verwaltungsprozessrechts.
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Mitgliedstaatliche Ebene
Auf nationaler Ebene werden durch umweltpolitische Gesetzgebung der EU unterschiedlichste Kompetenztitel berührt. In Art. 74 Abs. 1 GG sind das Nr. 20 (das Recht der Lebensmittel einschließlich der ihrer Gewinnung dienenden Tiere, das Recht der Genussmittel, Bedarfsgegenstände und Futtermittel sowie den Schutz beim Verkehr mit land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzgut, den Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge sowie den Tierschutz), Nr. 24 (die Abfallwirtschaft, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung [ohne Schutz vor verhaltensbezogenem Lärm]), Nr. 29 (Naturschutz und die Landschaftspflege), Nr. 32 (Wasserhaushalt); in Teilen auch das Recht der Wirtschaft (Nr. 11) oder das Baurecht (Nr. 18).
III. Beispiel Beihilfenkontrolle
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Subventionskontrollverfahrensrecht
Das Subventionskontrollrecht der Europäischen Union (Beihilfenkontrolle nach Art. 107 f. AEUV) dient der Überwachung und Verhinderung für den Binnenmarkt schädlicher mitgliedstaatlicher Subventionen. In diesem Zusammenhang ist die Union ermächtigt, auch alle zur Durchführung der Art. 107 und 108 AEUV zweckdienlichen Durchführungsverordnungen zu erlassen (Art. 109 AEUV).
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Überlagerung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts
Das europäische Beihilfenverfahrensrecht überlagert das nationale Verwaltungsverfahrensrecht. Die beihilferechtliche Verpflichtung zur Rücknahme begünstigender, aber beihilferechtswidriger Verwaltungsakte hat mit der Rs. Alcan[171] in Deutschland 1997 die Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts erstmals in das breitere Bewusstsein gerückt. Nach dieser Entscheidung des EuGH sind nationale verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften zum Vertrauensschutz oder zur Verfristung der Rückzahlungsforderung (§ 48 Abs. 2 und 4 VwVfG) in Fällen der beihilferechtswidrigen Gewährung von Beihilfen so zu handhaben, dass sie der unionsrechtlich gebotenen Rückabwicklung gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV nicht entgegenstehen.[172]
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Weitere Beispiele
Strukturell vergleichbare Überlagerungen allgemeiner verwaltungsverfahrensrechtlicher Institute[173] mit dem Argument, dass das Recht der Union nur so zur effektiven und einheitlichen Anwendung kommen kann,[174] finden sich jenseits des Beihilferechts beispielsweise für eine zollrechtliche Streitigkeit in der Rs. Ciola[175] oder im Kontext der Dienstleistungsfreiheit in der Rs. Kühne & Heitz,[176] wo es u. a. um die Frage ging, ob es eine Rücknahmepflicht unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte gibt, wenn der belastende Verwaltungsakt bereits in Bestandskraft erwachsen ist.[177]
IV. Beispiel Migrationsrecht
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Von der Ausländerpolizei zum Migrationsrecht
Das Migrationsrecht, das als Ausländerrecht seine Wurzeln im besonderen Polizeirecht hat und damit aus einer der ältesten Schichten des besonderen Verwaltungsrechts stammt, sieht sich trotz seiner besonderen Souveränitätssensitivität vielfältigen europarechtlichen Einwirkungen ausgesetzt.