Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Год издания: 0
isbn: 9783811488625
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Verständnis von Kompetenzüberschreitung

      Als Kompetenzüberschreitung im weiteren Sinne kann aber auch die Überschreitung der Rechtsmacht bezeichnet werden, wie sie jegliche aus formellen oder materiellen Gründen rechtswidrige Handlung eines Kompetenzträgers darstellt. Danach besteht nie eine Rechtsgrundlage zur Setzung rechtswidriger Akte. Beispiele für solche Ultra-vires-Akte im weiteren Sinne sind die fehlende örtliche, instanzielle oder funktionelle Zuständigkeit eines Kompetenzträgers (Fragen der Organkompetenz), Verfahrensfehler im weitesten Sinne sowie allgemein Verstöße gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Grundrechte. Der Unterschied zu Ultra-vires-Akten im engeren Sinne besteht darin, dass grundsätzlich eine sachliche Zuständigkeit (Verbandskompetenz) für den fraglichen Rechtsakt besteht.

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      Ursprung der Kompetenzbeanstandung

      In Mehrebenensystemen lässt sich differenzieren, ob die Fehlerhaftigkeit und damit Kompetenzwidrigkeit bereits aus dem Recht des Kompetenzträgers (aus ebenenimmanenten Gründen) folgt, sie besteht dann gewissermaßen unmittelbar – auf weitere gleichsam von „außen“ hinzutretende Einwände gegen den Rechtsakt kommt es dann nicht mehr an – oder ob Akte erst durch von „außerhalb“ dieses Rechts des Kompetenzträgers hinzutretendes Recht gewissermaßen kompetenzwidrig werden (aus ebenentranszendenten Gründen[198]). Die Kompetenzwidrigkeit besteht dann mittelbar.

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      Verwerfungsmonopol des EuGH

      In Art. 344 AEUV haben die Mitgliedstaaten sich verpflichtet, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln“. In den Verträgen ist in Art. 19 EUV (der EuGH sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge)[199] und für das Vorlageverfahren in Art. 267 Abs. 3 AEUV vereinbart, dass der EuGH für Auslegungs- und Gültigkeitsfragen zum Unionsrecht und zu Handlungen der Unionsorgane die letzte Instanz ist. Der EuGH nimmt für sich im Rahmen seiner Zuständigkeit zwar kein Prüfungs-, aber ein Verwerfungsmonopol über europäische Rechtsakte in Anspruch,[200] dies aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung und der Rechtssicherheit. Die Errichtung eines „echten“ Gerichts, in dieser Form im überstaatlichen Bereich einzigartig, war in den Verhandlungen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften insbesondere ein deutsches Anliegen – im Gegensatz zu französischen Vorstellungen, die auf konventionelle Mechanismen der Streitbeilegung im Völkerrecht setzten.[201]

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      Kritik am EuGH

      Auf einer ersten Ebene der Kritik wird beanstandet, dass eine Kompetenzkontrolle durch den EuGH zu selten erfolge und der EuGH bei der Frage von Kompetenzüberschreitungen zu unionsfreundlich judiziere. Gegen diese Vorwürfe wird darauf hingewiesen, dass der EuGH insgesamt wenig Gelegenheit hat, sich zum Umfang der Unionskompetenzen zu äußern, weil der Einwand der Kompetenzüberschreitung selten erhoben wird.[202] Der EuGH hat in seiner bisherigen Rechtsprechung auch europäische Rechtsakte wegen absoluter Unzuständigkeit (fehlender Verbands-/Ebenenkompetenz) für kompetenzwidrig (Ultra vires im engeren Sinne) erklärt.a[203] Einer ausgreifenden Verwendung der Binnenmarktkompetenzen (Art. 95 EGV, heute Art. 114 AEUV) hat der EuGH in seinem Tabakurteil vom Oktober 2000[204] klare Grenzen gesetzt. Auf einer anderen Ebene ist die Kritik am EuGH zu verorten, die dem EuGH selbst Kompetenzüberschreitung vorwirft, entweder durch Perpetuierung kompetenzüberschreitender Rechtsetzung oder, noch allgemeiner, durch Überschreitung der Grenzen richterrechtlicher Rechtsfortbildung.[205] Die Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Rechtsfortbildung durch Gerichte ist freilich ein Dauerthema des Rechts auf allen Ebenen, in dem eindeutige Maßstäbe schwer auszumachen sind. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass die Mitgliedstaaten die Rechtsfortbildung durch den EuGH in den vielen Vertragsänderungsrunden seit 1952 überwiegend gebilligt haben, ihr gelegentlich aber auch entgegengetreten sind.[206]

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      Vertragsverletzung

      Die nüchterne europarechtliche Analyse ergibt, dass mitgliedstaatliche Kompetenzletztentscheidungsansprüche nicht mit Art. 267 Abs. 3 AEUV und Art. 19 EUV vereinbar sind. In Betracht kommt für einen solchen Fall die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens.[207]

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      Ausbrechende Rechtsakte

      Zeitnah zur Intensivierung der deutschen Diskussion über die europäische Kompetenzreichweite erhob der Zweite Senat des BVerfG im Maastricht-Urteil 1993 in einem Obiter dictum erstmals den Anspruch, Kompetenzüberschreitungen der europäischen Einrichtungen und Organe festzustellen und entsprechende europäische Rechtsakte („ausbrechende Rechtsakte“) für in Deutschland unanwendbar zu erklären.[208] Die Kompetenzdebatte der damaligen Zeit legt nahe, dass hier vor allem europäische Gesetzgebung gemeint war.

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      Grenzen der Hoheitsrechtsübertragung

      Ausgangspunkt ist dabei die Behauptung des BVerfG, lediglich das Grundgesetz auszulegen und zu bestimmen, wie weit das auf dem Grundgesetz beruhende Zustimmungsgesetz die Mitwirkung in der EU trägt.[209] Um den Vorranganspruch des Europarechts geht es zunächst nicht. Die Frage ist gleichsam vorgelagert: ob überhaupt bestimmte Hoheitsrechte übertragen sind und Europarecht besteht. Dieser Zugriff ermöglicht es, dann eben doch das Europarecht auszulegen – was eigentlich nach den Verträgen letztverbindlich dem EuGH vorbehalten ist. Erzeugt wird eine Art Parallelversion des Europarechts durch die Karlsruher Brille.

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      Ultra-vires-Kontrolle

      Mit dem Lissabon-Urteil 2009 wurde nach 16 Jahren die „Ultra-vires-Kontrolle“ – eigentlich ohne konkreteren Anlass – reanimiert[210] und im Zuge einer umfassenden Absicherung nationaler Verfassungsgehalte neben eine Identitätskontrolle[211] gestellt. Ergänzt wurde diese Absicherung durch eine gleichsam europarechtsfeste Liste an Sachbereichen, die als wesentlich für die demokratische und politische Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten anzusehen sein sollen.[212]

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      Deeskalation im Honeywell-Beschluss

      Wohl auf die Kritik an der überzogenen Abwehrhaltung im Lissabon-Urteil hin ruderte der Zweite Senat 2010 mit dem Honeywell-Beschluss[213] alsbald deutlich zurück und stellte bei grundsätzlichem Beharren auf der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle für eine entsprechende Feststellung hohe Hürden auf. In dieser Version konnte man der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle sogar stabilisierende Züge für das Gesamtgefüge in einem nicht-hierarchischen Verfassungsmodell im Sinne gegenseitiger Stabilisierung zuschreiben,[214] eine Art Vorwirkung auf die europäische Kompetenzhandhabung.

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      Ultra-vires-Feststellung im PSPP-Urteil

      Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat der Zweite Senat des BVerfG mit einer Mehrheitsentscheidung diese Schwebelage zerstört und erstmals eine Ultra-vires-Feststellung getroffen, allerdings nicht im Hinblick auf europäische Gesetzgebung, sondern betreffend ein Anleihekaufprogramm der EZB („PSPP“) und ein diesbezügliches EuGH-Urteil.[215] Die Entscheidung ist auf breite Kritik gestoßen, hat aber auch vereinzelt Zuspruch erhalten.[216]

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      Risiken eines überzogenen Kontrollanspruchs

      Es lässt sich zeigen, dass die Senatsmehrheit im Zweiten Senat der Sache nach einen Ultra-vires-Akt im weiten Sinne beanstandet, was gegenüber der europäischen Ebene auf eine allgemeine Rechtskontrolle hinausläuft.[217] Dies ist mit den vertraglichen Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen nicht vereinbar.[218] Das PSPP-Urteil missachtet