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Von der Freizügigkeit zum Unionsbürger
Ausgangspunkt war dabei die innereuropäische Personenfreizügigkeit als Teil der Grundfreiheiten des Binnenmarktes, in dem Arbeitnehmer und Dienstleistungserbringer sich frei bewegen können sollen. Schrittweise erlangten auch wirtschaftlich inaktive Rentner, Studenten und alle sonstigen Bürger eine sekundärrechtliche Erweiterung ihrer Freizügigkeitsrechte.[180] Die Familienangehörigen der Unionsbürger erhielten ebenfalls ein unselbstständiges bzw. akzessorisches Freizügigkeitsrecht.[181] Auch ein Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen wurde zusätzlich zu den aus eigenem Recht mobilen Unionsbürgern aufgebaut, als dessen ratio unabhängig von wirtschaftlichen Begründungen die Wahrung der Familieneinheit erscheint.[182] All dies mündete schließlich in einen Unionsbürgerstatus als Bürgerrecht.[183]
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Unionsbürgerstatus
Die heutige Sonderstellung der Unionsbürger im Migrationsrecht, die sich von der ökonomisch definierten Arbeitnehmer- oder Dienstleistereigenschaft längst abgekoppelt hat, lässt sich also auf mehrere für sich eigenständig tragende Begründungen und die entsprechenden unionalen Kompetenzen zurückführen.[184] Den Unionsbürgern werden heute in den Art. 20 Abs. 2 lit. a und Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie in Art. 45 GRCh grenzüberschreitende „Wanderungsrechte“[185] mit „Verfassungsrang“[186] gewährt.
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Sekundärrechtliche Konkretisierungen
Ihre sekundärrechtliche Konkretisierung erfährt die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Unionsbürgerrichtlinie.[187] Diese Richtlinie ist ausweislich ihrer Präambel gestützt auf die Art. 12 EGV (allgemeines Diskriminierungsverbot, heute Art. 18 AEUV), 18 EGV (Freizügigkeit der Unionsbürger, heute Art. 21 AEUV), 40 EGV (Arbeitnehmerfreizügigkeit, heute Art. 46 AEUV), 44 EGV (Niederlassungsfreiheit, heute Art. 50 AEUV) und 52 EGV (Dienstleistungsfreiheit, heute Art. 59 AEUV). Hier wird sehr gut sichtbar, dass hinter der Richtlinie sowohl markt- und wirtschaftsbezogene Erwägungen als auch solche, die sich auf unionale Bürgerrechte mit insofern eigenständigem Geltungsgrund stützen, stehen.
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Innerstaatliche Umsetzung
Seine innerstaatliche Umsetzung erfährt der Sonderstatus der Unionsbürger in § 1 Abs. 2 AufenthG, welcher das allgemeine Ausländerrecht – soweit es im AufenthG geregelt ist – für auf Unionsbürger im Grundsatz nicht anwendbar erklärt. Stattdessen gilt insoweit besonderes Ausländerrecht, das FreizügG/EU, welches auch die Unionsbürgerrichtlinie umsetzt.
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Drittstaatsangehörige
Das unional determinierte Migrationsrecht erstreckt sich zunehmend auch auf Drittstaatsangehörige. In Anwendung der allgemeinen Regel des Art. 216 AEUV, dass der Union parallel zu ihren Innenkompetenzen insoweit auch die Befugnis zum Abschluss internationaler Übereinkommen zukommt, kann die Union über Assoziierungsabkommen nach Art. 217 AEUV Angehörige des assoziierten Drittlandes in das interne Freizügigkeitsregime einbeziehen.[188] In dieser Weise einbezogen sind insbesondere Angehörige der Drittstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums EWR (Norwegen, Liechtenstein und Island) sowie der Schweiz.[189] Auch sie sind dem allgemeinen mitgliedstaatlichen Migrationsverwaltungsrecht weitgehend entzogen.[190] § 12 FreizügG/EU erstreckt die Anwendung dieses Gesetzes auf EWR-Staatsangehörige.[191]
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Multiple Kompetenzgrundlagen
Dem verwaltungsrechtlichen Bereich, welcher im Grundgesetz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 4 GG als Kompetenztitel zur Regelung des Aufenthaltsrechts- und Niederlassungsrechts der Ausländer formuliert ist, stehen also verschiedene unionsrechtliche Kompetenzen gegenüber: (1) die Freizügigkeit der Unionsbürger als Bürgerrecht, die teilweise mit der Personenfreizügigkeit im Markt verwoben ist, und teilweise selbstständig neben ihr steht, (2) eben diese Personenfreizügigkeit als Recht der wirtschaftlich Aktiven, (3) wiederum die Freizügigkeit der wirtschaftlich Aktiven, aber als Ausprägung freundschaftlicher und regelbasierter Außenbeziehungen und schließlich (4) der Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts. Diese Kompetenzen der Union sind teilweise funktional und teilweise sachbereichsbezogen gefasst, entsprechen aber auch in ihrem sachbereichsbezogenen Teil nicht deckungsgleich dem Verständnis der grundgesetzlichen Sachbereichsgliederung.
E. Kompetenzkonflikte und Letztentscheidung
– das Ultra-vires-Problem
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Kompetenzkonflikte
Die europäische Kompetenzordnung stellt sich als anspruchsvoll differenziert und komplex dar. Dies steigert die Wahrscheinlichkeit von Meinungsunterschieden zu Kompetenzfragen und lenkt den Blick auf die Frage nach der Letztentscheidung bei Kompetenzkonflikten.
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Begrenzte Rolle von Vorrangregeln
Nicht selten wird in Mehrebenensystemen versucht, mit Kollisionsnormen (Vorrangprinzipien[192]) Konflikte zwischen den Ebenen zu kanalisieren. Hier könnte der vom EuGH für die EU richterrechtlich entwickelte Anwendungsvorrang eine Rolle spielen.[193] Festzuhalten ist aber, dass nur bei einem vorbehaltlosen Vorrangprinzip Kompetenzkonflikte schlicht mit Verweis auf das vorrangige Recht gelöst werden können. Versteht man Vorrang dagegen als Vorrang in der jeweiligen Kompetenzsphäre oder als Vorrang mit Kompetenzmäßigkeitsvorbehalt, dann ist die Frage nach der Kompetenzeinhaltung der Frage nach dem Vorrang vorgelagert.[194] Das gilt erst recht für Kompetenzordnungen mit mehreren Ebenen, die überschneidungsfrei angelegt sind – wie beispielsweise in Österreich –, die völlig ohne Vorrangregel auskommen und stets nur nach der richtigen – kollisionsfreien – Bestimmung der Kompetenzreichweite fragen.
I. Begriffsklärung
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Kompetenzvorverständnis
Was als Kompetenzüberschreitung (Ultra-vires-Akt) der europäischen Ebene gilt, hängt vom Kompetenzvorverständnis ab.[195] Es lassen sich mindestens zwei Kategorien von Kompetenzüberschreitungen (Ultra-vires-Akten) unterscheiden: Ultra-vires-Akte im engeren Sinne und im weiteren Sinne.[196]
1. Ultra-vires-Akte im engeren Sinne
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Enges Verständnis von Kompetenzüberschreitung
Soweit Kompetenzen nach Sachbereichen oder Zielvorgaben Kompetenzträgern zugewiesen sind, liegt ein kompetenzüberschreitender Akt dann vor, wenn Tatbestandsmerkmale, die solche Sachbereiche oder Zielvorgaben bestimmen und an die die Rechtsfolge der Kompetenzzuweisung geknüpft wird, nicht erfüllt sind. Es gibt dann keine Rechtsgrundlage für einen solchen Akt. Regelmäßig handelt es sich dabei um Fälle fehlender Verbandskompetenz. Typische Beispiele sind Überschreitungen von Normsetzungszuständigkeiten durch Normsetzung in einem sachlich anderen Bereich bzw. in Bezug auf andere Ziele als durch die Ermächtigung zur Normsetzung festgelegt. Ein Beispiel ist hier – mangels Bundesgesetzgebungskompetenz verfassungsgerichtlich für kompetenzwidrig erklärt – die Bundesgesetzgebung zur Staatshaftung (da kein bürgerliches Recht im Sinne von Art. 74 I Nr. 1 GG).[197] Die Unzuständigkeit für einen Sachbereich (Ultra-vires-Akte im engeren Sinne) ist die typische Kompetenzüberschreitung.
2.