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Nicht näher dargelegt wird jedoch, was „Willensherrschaft“ meint, sie wird auch nicht begründet. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Maßstäbe vornehmlich den Wertungen dem Gesetz entnommen werden sollten (deutlich wird dies insbesondere auch bei den Sonderpflichtdelikten, s. dazu Rn. 109 ff.) Die Frage, warum es überhaupt möglich ist, eine fremde Handlung zuzurechnen und woraus sich diese Möglichkeit ergibt, wenn man davon ausgeht, dass der Einzelne grundsätzlich für sein Handeln selbst verantwortlich ist, wird nicht thematisiert. Die Antwort auf diese Frage ist aber entscheidender Wegweiser für die Bestimmung der weiteren Kriterien von Täterschaft und Teilnahme. Zudem ist der Begriff der Willensherrschaft jedenfalls ungenau, denn eine solche kann es aufgrund der Selbstbestimmung des Einzelnen genau genommen nicht geben. Der Wille an sich ist nicht beherrschbar, man kann ihn nur zum eigenen Nutzen missbrauchen. Denn auch der unmittelbar Handelnde (der Tatmittler) wird aufgrund eines Irrtums oder auch eines Nötigungsdrucks nicht automatisch zum „Werkzeug“ des Hintermanns, so könnte er sich auch besinnen oder dem Druck des Hintermannes standhalten. Der Vordermann bleibt Subjekt und ist aufgrund seiner Autonomie nicht in gleicher Weise beherrschbar wie ein Kausalprozess. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die Perspektive des Opfers vergegenwärtigt. Dieses begreift die Verletzung nicht als ein hinzunehmendes Naturereignis, sondern zunächst unmittelbar als die von einer bestimmten handelnden Person (dem Vordermann) bewirkten Freiheitsverletzung. Damit wird nicht die Figur der mittelbaren Täterschaft insgesamt abgelehnt, denn auch wenn ein sich im Irrtum befindendes Subjekt grundsätzlich ein selbstreflektiertes Subjekt bleibt, wird damit nicht geleugnet, dass ein anderer sich den Irrtum für seine Zwecke zunutze machen kann. Zwar könnte sich die vom Hintermann eingesetzte Mittelsperson besinnen, aber dies überlässt jener eben dem Zufall.[118] Der Einzelne kann damit Erfahrungsregeln im handelnden Umgang mit Menschen einsetzen, ebenso, wie er sich Gesetze der Natur zunutze machen kann. Bedingt durch die Eigenständigkeit der jeweils handelnden Person sind diese aber von strukturell anderer und insbesondere auch von unsicherer Art als mechanische Abläufe. Vor diesem Hintergrund sind daher insbesondere die Fälle der sog. Nötigungsherrschaft und der sog. Organisationsherrschaft als Formen mittelbarer Täterschaft kritisch zu überdenken.[119]
V. Personale Handlungslehre und ihre Bedeutung für die Lehre von der Beteiligung
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Aus der Kritik an den unterschiedlichen Ansätzen zur Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme wurde deutlich, dass weder die kausale noch die finale Handlungslehre in der Lage ist, personales Handeln hinreichend zu erfassen. Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Lehre Roxins wurde aber auch dargelegt, dass die Begründung der Möglichkeit der Mitzurechnung fremden Handelns an interpersonale Handlungszusammenhänge gebunden ist und es damit einer näheren Bestimmung menschlichen Handelns bedarf. Der Begriff „personales Handeln“ wird nicht einheitlich verwendet,[120] so dass es erforderlich ist, das vorliegend zugrunde gelegte Verständnis näher auszuweisen. Dabei kann allerdings nicht der gesamte (rechtsphilosophische) Ableitungszusammenhang dargelegt werden, der auch bereits in zahlreichen Monographien ausführlich dargelegt wurde.[121] Es werden vielmehr nur einige, für die Bestimmung von Täterschaft und Teilnahme wesentlichen Aspekte herausgestellt.[122] Verbunden ist mit einem personalen Handlungsverständnis ein Unrechtsbegriff, der sich nicht reduzieren lässt auf eine Erfolgsverursachung oder Normverletzung, sondern die Person als in sozialen Zusammenhängen stehendes Rechtssubjekt erfasst, das die Verletzung als die von ihr bewirkte begreift (materieller Unrechtsbegriff). So beinhalten z.B. die Tatbestände des Allgemeinen und Besonderen Teils des StGB Verletzungsbeschreibungen, die nicht bloße zufällige Konstruktionen eines über den Einzelnen stehenden Gesetzgebers sind.[123] Nur wenn der Einzelne als Mitkonstituens des Rechts begriffen wird, kann ihm eine Verletzung desselben als seine Verfehlung auch vorgeworfen werden.
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Das Rechtsverhältnis ist (ideal gedacht) so geartet, dass die äußere Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen zusammen bestehen kann.[124] Es ist ein auf Gegenseitigkeit ruhendes Anerkennungs- und Gleichheitsverhältnis. Dabei ist es eine Leistung des je Einzelnen (und damit auch des späteren Täters), dieses Verhältnis zu stiften. Er ist in der Lage, sich grundsätzlich zum Richtigen zu bestimmen und nach einem von ihm eingesehenen Sollensverständnis zu handeln (Autonomie). Nur wenn zwischen dem späteren Täter und dem Verletzten dieser Begründungszusammenhang im Recht ausgewiesen ist, lässt sich der Begriff des Unrechts bestimmen, der ein sekundärer Begriff ist. Eine handlungsleitende Funktion kann Normen nur zukommen, weil sie auch vom Handelnden eingesehen werden können.[125] Die Rechtsgüter der Personen sind daher auch nicht erfundene Zuschreibungen des Gesetzgebers, sondern Formen der Freiheit des Einzelnen, die sich durch wechselseitige Anerkennung konstituieren. Sie lassen sich nicht auf faktische Gegebenheiten (Leben, Körper usw.) reduzieren, sondern beziehen ihren Geltungswert erst aus dem Bezug zum handelnden Subjekt selbst. So kann dann auch die tätige Verletzung nicht auf ihre empirische Faktizität reduziert werden. Eine rein kausale Betrachtung kann zwar die in der Rechtsverletzung zum Vorschein tretende Sozialschädlichkeit des Erfolges benennen, nicht aber ein personales Unwerturteil damit verbinden. Ein Verletzungserfolg kann ebenso durch ein Unglück (z.B. Umsturz eines Baumes im Wald, Blitzschlag) eintreten. Die Verletzungsdimension liegt gerade auch in der Nichtrespektierung eines anderen und damit in der Negation des Anerkennungsverhältnisses.
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Die Realisierung des Tatbestandes bedeutet damit mehr als ein bloß (äußerer) Normbruch. Das in § 212 StGB beschriebene Unrecht beispielsweise erschöpft sich nicht darin, dass jemand (äußerlich betrachtet) auf sein Gegenüber schießt und dieser durch den Schuss getötet wird, sondern maßgeblich ist, dass er einerseits mit dem Ziel handelt, einen anderen zu verletzen und sich aber auch zugleich als denjenigen begreift, auf den die Tötung zurückzuführen ist. Weil der Erfolg als von ihm bewirkbar verstanden wird, kann er als seine Verletzung begriffen werden.[126] Handlung und Erfolg beschreiben so eine ontische Einheit. Der Einzelne muss das Bewusstsein haben, Urheber der Verletzung zu sein; nur dann ist er als derjenige zu begreifen, der das tatbestandsmäßige Geschehen beherrscht und den Tatbestand (objektiv und subjektiv) verwirklicht.[127] Dem Einzeltäter muss – anders gewendet – die Handlungsmacht über das rechtsverletzende Geschehen zukommen. Diese Macht kann mit einem Schlagwort als Tatherrschaft bezeichnet werden, die einen personalen Handlungssachverhalt beschreibt. Täter ist damit derjenige, der die Macht über die konkrete Rechtsverletzung innehat, ihm kommt die Herrschaft über das im Tatbestand vertypte Unrecht zu.[128]
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Zur Un-Rechtsverwirklichung muss zudem neben der Realisierung des Verletzungstatbestandes die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens hinzukommen, d.h. der Täter muss sich mit seiner konkreten Tat gegen das Recht gewendet haben. Die in den einzelnen Tatbeständen beschriebenen Verbote können durch eine Erlaubnisnorm im konkreten Fall die Verbotsnormen begrenzen; die Rechtfertigungsgründe stellen eine zusätzliche Stufe dar. Das abstrakt als Unrechtstat einzustufende Geschehen wird in der konkreten Situation als erlaubt angesehen. Es bleibt aber bei der Feststellung der Verwirklichung des objektiven und subjektiven Verletzungsgeschehens, so dass der Verletzungstatbestand an sich nicht aufgehoben wird, sondern der Angriff in die Rechtssphäre „nur“ im konkreten Fall nicht als verbotene Wendung gegen das eingesehene