12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 50 Die Lehre von der Beteiligung › B. Nivellierungstendenzen des dualistischen Beteiligungssystems
B. Nivellierungstendenzen des dualistischen Beteiligungssystems
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Auch wenn das deutsche Recht mit den Regelungen der §§ 25 ff. StGB eindeutig von einem dualistischen Beteiligungssystem auszugehen scheint und sich damit gegen ein Einheitstätersystem entschieden hat, welches auf der Unrechtsebene nicht zwischen unterschiedlichen Beteiligungsformen differenziert[17], fällt auf, dass sowohl in strafrechtlichen Bestimmungen selbst (I.), insbesondere im Bereich der Organisationsdelikte und der Wirtschaftsstraftaten, als auch in der Rechtsprechung (unter II.) Tendenzen zu finden sind, die auf eine Nivellierung des Beteiligungssystems hinauslaufen. In der Wissenschaft werden diese Nivellierungstendenzen zum Teil kritisch beobachtet, zum Teil aber auch zustimmend zur Kenntnis genommen und (de lege ferenda) ein Einheitssystem favorisiert (III.).
I. Nivellierungstendenzen in der Gesetzgebung
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Im Besonderen Teil des StGB, wie z.B. im Bereich der sog. Organisationsdelikte[18] finden sich vermehrt Tatbestände, in denen die Differenzierung von Beteiligungsformen insbesondere dadurch aufgelöst wird, dass Teilnahmehandlungen zur Täterschaft aufgewertet werden. So geht der Gesetzgeber in den letzten Jahren immer mehr dazu über, Tatbestände im Besonderen Teil des StGB zu schaffen, in denen Förderungs- und damit Gehilfenhandlungen zu täterschaftlichem Handeln hochgestuft werden. Kraft Gesetzes wird also der Gehilfe zum Täter erklärt, was zu einer Ausdehnung des Täterbegriffs verbunden mit einer Verlagerung strafbewehrten Verhaltens weit in das Vorfeld der eigentlichen Rechtsgutsverletzung führt.[19]
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Nach § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) wird z.B. die bloße Unterstützung einer kriminellen Verbindung oder die Werbung für diese genauso bestraft wie die Mitgliedschaft, nämlich als Täterschaft und nicht als bloße Teilnahme.[20] Auch nach § 89c Abs. 1 StGB wird als Täter bestraft, wer für die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nicht unerhebliche Vermögenswerte sammelt, entgegennimmt oder zur Verfügung stellt. Das bloße Sammeln, Entgegennehmen oder auch das zur Verfügungstellen von Finanzmitteln stellt für sich genommen jedoch zum einen ein rein neutrales, ubiquitäres Verhalten dar. Zum anderen handelt es sich um eine bloße Förderungshandlung, die als typischer Gehilfenbeitrag zu werten wäre.
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Auch zeigte sich die Aufwertung von Beihilfehandlungen zur Täterschaft in dem neu gefassten § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte. Da die Beihilfe zur Selbsttötung mangels Vorliegens einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat nicht strafbar war, wollte der Gesetzgeber auf die Normierung eines Straftatbestandes im Besonderen Teil ausweichen, um die Beihilfe zum Suizid in bestimmten Fällen unter Strafe stellen zu können. Auch hier würde so eine Gehilfenhandlung zur Täterschaft erhoben. Das Bundesverfassungsgericht hat am 26. Februar 2020 § 217 StGB als mit dem Grundgesetz unvereinbar und für verfassungswidrig erklärt.[21]
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Die Aufwertung zur Täterschaft bewirkt auch, dass die in § 27 Abs. 2 S. 2 StGB vorgesehene obligatorische Strafmilderung des Gehilfen nicht zum Tragen kommt. Damit gehen die genannten Tatbestände sogar über das Einheitstätersystem hinaus, denn dieses sieht zumindest auf der Rechtsfolgenseite eine Differenzierung vor. Das ist bei den Tatbeständen des Besonderen Teils, die Teilnahmeformen zur Täterschaft erheben, nicht der Fall.[22]
II. Nivellierungstendenzen in der Rechtsprechung
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Auch in der Rechtsprechung, die die Unterscheidung der Beteiligungsformen vermehrt in Form einer sog. wertenden Gesamtbetrachtung (näher Rn. 31 ff.) vornimmt, werden in Teilen die Grenzen zwischen Täterschaft und Teilnahme verwischt. Das zeigt sich insbesondere durch die von der Rechtsprechung entwickelte Konstruktion der sog. Täterschaft kraft Organisationsherrschaft im Rahmen von Wirtschaftsstraftaten.[23] Die von Roxin entwickelte Rechtsfigur der organisatorischen Machtapparate (näher hierzu → AT Bd. 3: Claus Roxin, Mittelbare Täterschaft, § 52 Rn. 169 ff.) hat die Rechtsprechung aufgenommen, jedoch in erheblicher Weise modifiziert. Anders als Roxin verzichtet sie auf die Notwendigkeit der Rechtsgelöstheit und der Fungibilität organisatorischer Machtapparate, so dass eine mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft auch dann in Betracht kommt, wenn der Hintermann unternehmerische oder geschäftsähnliche Organisationsstrukturen mit bloß regelhaften Abläufen ausnutzt. So soll auch derjenige Täter kraft Tatherrschaft sein, der „bestimmte Rahmenbedingungen durch Organisationsstrukturen schafft, die regelhafte Abläufe auslösen, wenn er diese Bedingungen ausnutzt, um die erstrebte Tatbestandsverwirklichung herbeizuführen“.[24] Nach diesem Maßstab bejaht der BGH mittelbare Täterschaft auch bei unternehmerischer Betätigung unabhängig davon, ob die unmittelbaren Täter schuldhaft handeln. Der BGH hat daher beispielsweise einem Tierarzt aufgrund seiner Stellung als Arbeitgeber gegenüber angestellten Tierärzten bei „wertender Betrachtung eine Tatherrschaft“ bezogen auf den Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz zugeschrieben, da die Angestellten aufgrund der Stellung des Angeklagten als Arbeitgeber „rein faktisch an seine Weisungen gebunden“ waren.[25] Eine solche faktische Betrachtungsweise führt dazu, dass die Abgrenzungskriterien von Täterschaft und Teilnahme konturenlos werden – im konkreten Fall zwischen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung. Es hängt allein davon ab, welche Position der Tatbeteiligte im System hat, wonach sich auch sein Tatinteresse bzw. Täterwille bestimmt.[26] Damit wird die Tatbestandsbezogenheit aufgelöst.[27] Denn das bloße Schaffen von Rahmenbedingungen und ein Ausnutzen von regelhaften Abläufen allein lässt ein Kriterium für täterschaftliches Handeln in Bezug auf die konkrete Rechtsverletzung nicht erkennen. Solange die unmittelbar die Rechtsverletzung bewirkende Person selbstverantwortlich handelt, ist sie diejenige, die die Einheit zwischen Tatbestandshandlung und -erfolg stiftet. Das Schaffen von Rahmenbedingungen und das Ausnutzen regelhafter Abläufe stellt dann eine Teilnahme an einer fremden Tat dar; der Hintermann mag zwar die Tat veranlasst haben, eine Herrschaft über die Tatbestandsrealisierung kommt ihm aber gerade nicht zu. Das bloße Setzen einer kausalen Ursache kann für eine täterschaftliche Zurechnung nicht genügen. Der Ansatz der Rechtsprechung läuft zudem Gefahr, die Mittelsperson auf einen Kausalfaktor zu reduzieren, was sich mit der Vorstellung eines vollverantwortlichen Handelns der unmittelbar zur Rechtsverletzung übergehenden Person nicht vereinbaren lässt.[28]
III. Nivellierungstendenzen in der Literatur
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Angesichts der Aufweichungstendenzen hinsichtlich der Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme auf Unrechtsebene durch den Gesetzgeber und die höchstrichterliche Rechtsprechung finden sich wieder[29] vermehrt Stimmen in der Literatur, die eine Abkehr vom traditionellen dualistischen Beteiligungssystem fordern.[30] Beispielsweise meint Rotsch auf der Grundlage eines „normativ-funktionalen Straftatmodells“[31],