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Welzel setzt sich zunächst kritisch mit dem naturalistischen Positivismus und den auf den Wertlehren basierenden teleologischen Lehren auseinander. Das „werthafte Sein“ sei der Wesensstruktur des Menschen immanent.[90] Menschliches Handeln könne nicht auf bloße Kausalvorgänge reduziert werden, sondern habe objektive und subjektive Momente in sich zu vereinigen. Denn das besondere Moment menschlicher Handlung sei ihre Zweckgerichtetheit, „d.h. Ursachfaktoren der äußeren Welt zu Mitteln zu machen, die einen bestimmten Erfolg als Ziel verwirklichen“[91]. Kausalität sei dagegen „‚eine blinde Kategorie‚“ und trage keine Zwecktätigkeit in sich.[92] Der menschliche Wille sei derjenige, der die Kausalität sehend werden lasse: „Der Wille ist nicht lediglich ein die Wirklichkeit verändernder, sondern vor allem ein sie bewußt gestaltender Faktor. Das ist keine bloß ‚subjektive‘ Eigenschaft des Willens, sondern eine objektive Funktion: Das Handlungsgeschehen ist in seiner objektiven Gestalt nicht rein blind-kausal, sondern zweckhaft ausgewählt und zielgerichtet, d.h. trotz allen kausalen Ablaufs final (sehend) vor- und überdeterminiert. Auf dieser objektiv-finalen Funktion des Willens beruht alles kulturelle, soziale und rechtliche Dasein.“[93] Auch ein Geisteskranker sei in der Lage, seine Handlung final zu steuern, demgegenüber fehle ihm aber die Fähigkeit zu „sinnvoller Wertentscheidung“, also handele er zwar tatbestandsmäßig, aber schuldlos.[94]
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Das entscheidende Moment menschlichen Handelns und damit des Unrechtshandelns sei die Finalität: „Der primäre Ausgangspunkt strafrechtlicher Dogmatik sei die finale (vorsätzliche) Handlung“.[95] Verbunden sei mit der Finalität die soziale und werthafte Bedeutung des Handelns. Begrenzung erfahre der Unrechtsbegriff aber insofern, als sozial-adäquate Handlungen von ihm nicht erfasst würden, da sie insoweit nicht sozial bedeutsam seien.[96] Um den gesamten sozialen Bedeutungsgehalt der täterschaftlichen Handlung zu erfassen, müssten zudem neben der Finalität auch die persönlichen Voraussetzungen der Täterschaft gegeben sein, wie z.B. eine besondere Pflichtenstellung des Täters oder Absichten oder Tendenzen, soweit „der besondere sozialethische Bedeutungsgehalt der Handlung tatbestandsmäßig von ihnen abhängt“.[97]
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Auf der Grundlage der Finalität menschlichen Handelns könnten nun auch Täterschaft und Teilnahme voneinander abgrenzt werden, da sie strukturell verschiedene Erscheinungsformen finalen Handelns darstellten: Täter sei derjenige, der die finale Tatherrschaft über das Geschehen innehat, d.h. der „Herr über seinen Entschluß und dessen Durchführung ist und damit Herr über ‚seine‘ Tat (ist), die er in seinem Dasein und Sosein zweckbewußt gestaltet“[98]. Dem Teilnehmer komme zwar auch eine „Tat“-Herrschaft zu, diese sei jedoch nicht in der Ausführungstat selbst begründet, sondern liege allein in der Beteiligungshandlung.[99]
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Welzel erfasst mit dem Moment der Finalität bereits auf der Seite der personalen Handlung ein wesentliches Element des Unrechts. Die Zweckgerichtetheit ist es, die die rechtliche Werthaftigkeit des Handelns mitprägen muss. Unberücksichtigt bleibt dabei aber ein anderes bedeutendes Moment menschlichen Wirkens: Das Element der freien, inhaltsbestimmten Entscheidung. Neben der Fähigkeit der Person, Kausalprozesse in ihrem Denken und Verhalten zu antizipieren und so die Naturkausalität final zu steuern, ist die autonome – im Einzelnen selbst gegründete – Entschließung, einen bestimmten Zweck als von ihr hervorzubringenden zu wählen und umzusetzen, zu beachten. Bei einem rein instrumental verstandenen Handlungsbegriff bleibt diese Seite als „finale Vor- oder Überdetermination des Naturkausalverlaufs“ außer Betracht. Der Mensch als reflexives Wesen handelt nicht nur mit der Intention, bestimmte Erfolge in der Außenwelt herbeizuführen, sondern er steht auch in einem besonderen Verhältnis zu ihnen. Der Einzelne kann erkennen, dass es ein durch seine Entschließung und seine Handlung begründeter Erfolg ist.[100] Das hat auch Auswirkungen auf den Begriff der Täterschaft und seine Abgrenzung zur Teilnahme. Der Begriff der Finalität vermag für sich genommen eine Differenzierung nicht zu leisten, da das Zusammenwirken mehrerer Personen mit dem finalen Moment des Handelns nur unzureichend begriffen wird. So handelt nicht nur der Täter final bezogen auf die Rechtsverletzung, sondern der Teilnehmer ebenso.[101] Auch fahrlässiges Verhalten kann der finale Handlungsbegriff nicht klären, da es hier an der Zweckgerichtetheit der Handlung gerade fehlt.[102] Zudem ist ein Unterlassen auf der Grundlage der finalen Handlungslehre nicht erfassbar, da es hier gerade an einer zielgerichteten Körperbewegung fehlt.[103] Es bedarf daher einer über den Begriff der Finalität hinaus gehenden Bestimmung menschlichen Handelns und damit auch des Zusammenwirkens mehrerer bezogen auf eine Rechtsverletzung.
2. Der methodische Ansatz Roxins und seine Lehre von der Tatherrschaft
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Roxin wendet sich (insbesondere im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der finalen Handlungslehre) gegen einen Rekurs auf einen dem (Straf-)Recht allgemein vorgelagerten Handlungsbegriff, dem er lediglich einen „architektonisch-ästhetische(n) Wert“ bescheinigt.[104] Für die Bestimmung der Tatherrschaft komme dem Handlungsbegriffs nur eine negative Funktion zu, indem nicht finale Verhaltensweisen bereits keine Berücksichtigung finden könnten. Aber schon der Inhalt finalen Handelns bedürfe einer teleologischen Interpretation des positiven Rechts. Zwar könne der Einzelne sein Verhalten zweckmäßig steuern und sich des Kausalgesetzes gestaltend bemächtigen („anthropologische Grundkategorie“[105]), was aber final sei und was nicht, hänge allein von den „Zwecksetzungen der Rechtsordnung“ ab.[106] Die Finalität gebe auch keine Kriterien dafür, wie die unterschiedlichen Beteiligungsformen untereinander abzugrenzen seien, da der Teilnehmer ebenso final handele. Der Begriff der Tatherrschaft sei daher das „Produkt einer mehrschichtigen Synthese von ontologischer und teleologischer Betrachtungsweise“.[107] Zwar verwende der Tatherrschaftsbegriff auch unabhängig von der Handlungsstruktur ein vorrechtliches Material, eine Präzisierung erfahre er aber erst durch die rechtlichen Wertungen des Gesetzgebers und des Richters.[108] Auch die Anforderungen, die an die Haupttat bei einer Teilnahme zu stellen seien, könnten nicht aus dem Wesen der Handlung selbst abgeleitet, sondern nur durch den Zweck der Teilnahmevorschriften und aus den Besonderheiten der jeweiligen Deliktstatbestände ermittelt werden.[109]
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Das Gesetz stelle nun denjenigen, der die Tat ausführe, in den Mittelpunkt des Geschehens und begreife ihn daher als „Schlüsselfigur“, als „Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens“[110], während es den Teilnehmer außerhalb des zentralen Geschehens stelle, dieser gruppiere sich „um (den Täter) herum“.[111] Der Begriff der „Zentralgestalt“ bezeichne, so Roxin, damit einerseits den für die Abgrenzung zur Teilnahme maßgebenden gesetzlichen Wertungsgesichtspunkt, bezeichne andererseits aber auch einen deutlich erfassbaren vorrechtlichen Differenzierungsmaßstab.[112] Der Begriff der Tatherrschaft als „offener“, „beschreibender“ Begriff[113] sei flexibel genug, um den unterschiedlichen Einzelfällen gerecht werden zu können. Zwar ließen sich aus ihm nicht konkrete Abgrenzungskriterien zur Teilnahme ableiten, es handele sich aber um einen „wertenden Differenzierungsmaßstab“, der im Rahmen der realen Gegebenheiten deliktischen Handelns im Einzelnen entfaltet und konkretisiert werden könne.[114] Der Gesetzgeber habe dazu den ersten Schritt getan, indem er in § 25 StGB drei Formen der Täterschaft unterscheide, die den drei Arten der Tatherrschaft entsprächen: Die Handlungsherrschaft, die die unmittelbare Täterschaft, die Willensherrschaft (z.B. aufgrund von Zwang der Täuschung), die die mittelbare Täterschaft und die funktionelle Tatherrschaft, die die Mittäterschaft kennzeichne.[115]
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Berechtigt ist die Kritik Roxins am finalen Handlungsbegriff, der menschliches Verhalten nicht hinreichend zu erfassen vermag, da ihm ein bloß instrumentales Handlungsverständnis zugrunde liegt und er damit personales Handeln nur unzureichend erfasst. Nicht hingegen kann – wie Roxin meint – daraus geschlossen werden, dass damit für das (Straf-)Recht allgemein und für die Bestimmung von Täterschaft und Teilnahme im Besonderen dem Handlungsbegriff nur ein „architektonisch-ästhetischer