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In der Nachkriegszeit führten die Bestrebungen nach einer rechtsstaatlichen Bereinigung dazu, dass nunmehr zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die mit Geldbußen geahndet werden konnten, unterschieden wurde.[69] §§ 23, 24 des Gesetzes zur Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts vom 26. Juli 1949[70] (WiStG 1949) und später § 5 des Gesetzes zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts vom 9. Juli 1954[71] (WiStG 1954) bezogen auch Verbände ein. Im Fall einer Verletzung der Aufsichtspflicht konnten Geldbußen gegen den „Inhaber“ festgesetzt werden, der eine „juristische Person“ oder „Handelsgesellschaft“ bzw. „Personengesellschaft des Handelsrechts“ sein konnte. Da das kriminalpolitische Bedürfnis für eine Sanktionierung von Unternehmen angesichts ihres wachsenden Einflusses zunahm, entstand in den Gesetzen des Bundes und der Länder eine „Flut“ von Sondervorschriften, welche die Festsetzung von Verbandsgeldbußen ermöglichten.[72] Die dadurch entstandene Rechtslage war uneinheitlich: Z.T. stellten die Vorschriften auf eine Aufsichtspflichtverletzung ab, z.T. auf die Begehung der Tat durch Inhaber oder Organ, und in zahlreichen Gesetzen fehlten entsprechende Vorschriften vollständig.
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Bei der Schaffung der einheitlichen Regelung zur Verbandsgeldbuße war dem Gesetzgeber bewusst, dass gegen die Verurteilung von Verbänden zu Kriminalstrafen dogmatische Bedenken bestanden, er war aber der Auffassung, bei einer Geldbuße würden diese Bedenken „nicht oder jedenfalls nicht in dem gleichen Maße“ gelten, da sie „kein sittliches Unwerturteil“
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Dem Standpunkt des Gesetzgebers, dass die Verantwortlichkeit von Verbänden im Ordnungswidrigkeitenrecht dogmatisch unproblematischer ist, wird heute mit Recht widersprochen.[76] Zunächst ist festzustellen, dass die bei Einführung der Verbandsgeldbuße herrschende, auf die Lehre vom Verwaltungsstrafrecht[77] zurückgehende Auffassung, wonach zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ein qualitativer Unterschied („aliud“) bestehen soll, überholt ist. Danach sollten Strafvorschriften vor allem die Rechtsgüter des Einzelnen schützen, Ordnungswidrigkeiten dagegen das Allgemeininteresse an einer funktionierenden Verwaltungstätigkeit. Hiergegen spricht jedoch, dass heute zahlreiche Ordnungswidrigkeiten (z.B. im Bereich des Straßenverkehrs) den Schutz von Individualrechtsgütern bezwecken. Daher folgert die heute h.M.[78] (nur) einen quantitativen Unterschied („plus-minus“). Dies entspricht der Sichtweise des BVerfG,[79] wonach zum Kernbereich des Strafrechts „alle bedeutsamen Unrechtstatbestände“ gehören, während das Ordnungswidrigkeitenrecht „Fälle mit geringerem Unrechtsgehalt“ erfasst; die Geldbuße ist daher nur eine „nachdrückliche Pflichtenmahnung“, der „der Ernst staatlichen Strafens“ fehlt, während in der Kriminalstrafe „ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil“ zum Ausdruck gelangt; hierbei kann der Gesetzgeber „im Grenzbereich“ verbindlich festlegen, ob es sich um Kriminal- oder Ordnungsunrecht handelt. Mit Blick auf diese Einschätzungsprärogative, die dem Gesetzgeber die Entscheidung gestattet, ob Verhaltensweisen bestraft oder nur geahndet werden sollen, ist häufig von einer gemischt qualitativ-quantitativen Unterscheidung[80] die Rede.
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Weiter ist festzustellen, dass die Verbandsgeldbuße zwar nicht zum Strafrecht im engeren, kriminalstrafrechtlichen, aber zum „Strafrecht im weiteren Sinn“ zählt. § 30 OWiG verfolgt nach ganz h.M.[81] – wie jede Ordnungswidrigkeit[82] – nicht nur reparative, sondern auch präventive und repressive Zwecke. Bei Geldbußen geht es ebenfalls um eine „Bestrafung“ i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG, da das BVerfG[83] darunter jede Maßnahme versteht, die eine „missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten“ darstellt. Damit findet von Verfassungs wegen das Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege) Anwendung, wie § 3 OWiG einfachgesetzlich klarstellt. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, der dem Bund für das „Strafrecht“ die Gesetzgebungskompetenz zuweist, schließt gleichfalls das Ordnungswidrigkeitenrecht ein.[84] Und ebenso hat der EGMR[85] bei der Beurteilung der Frage, ob eine „strafrechtliche Anklage“ i.S.v. Art. 6 EMRK vorliegt, was er gemäß den „Engel-Kriterien“[86] autonom feststellt (Einstufung im nationalen Recht; Natur des Tatvorwurfs; Art und Schwere der Sanktion), entschieden, dass die deutschen Ordnungswidrigkeiten einbezogen sind. Die strafrechtlichen Prinzipien und Garantien gelten daher auch für Ordnungswidrigkeiten.[87] Dementsprechend hat das BVerfG[88] den Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa) explizit auf Ordnungswidrigkeiten angewandt.
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Dies bedeutet schließlich, dass die Verbandsgeldbuße genauso wie eine potentielle Verbandsstrafe mit den strafrechtlichen Grundkategorien (Rn. 55 ff.) in Einklang stehen muss. Es überrascht daher nicht, dass verbreitet von einem „Etikettenschwindel“[89] die Rede ist. Soweit damit gemeint sein sollte, dass in Wahrheit eine „Strafe“ festgesetzt wird, ginge dies allerdings zu weit, da die Verbandsgeldbuße keine Kriminalstrafe ist. Soweit damit aber zum Ausdruck gebracht werden soll, dass eine Sanktion geschaffen wurde, die einer Strafe nahe kommt, also „der Sache nach“[90] bereits ein Verbandsstrafrecht existiert, § 30 OWiG in Zusammenschau mit §§ 9, 130 OWiG (Rn. 31) den „Kern eines Unternehmensstrafrechts“[91] bildet, ist dies nicht von der Hand zu weisen. Freilich handelt es sich (nur) um ein Verbands- bzw. Unternehmensstrafrecht „im weiteren Sinne“.
2. Voraussetzungen der Festsetzung
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Die Festsetzung einer Verbandsgeldbuße knüpft § 30 OWiG an enge Voraussetzungen, die der Gesetzgeber im Laufe der Zeit mehrfach erweitert hat. Bei § 30 OWiG handelt es sich nach h.M. um eine „Zurechnungsnorm“[92] in dem Sinne, dass bestimmten Verbänden (Rn. 29) bestimmte Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ihrer Leitungspersonen („Repräsentanten“; Rn. 30 ff.) zugerechnet werden.
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Sanktionsfähig