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Am 18. September 2013 präsentierte der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ (Verbandsstrafgesetzbuch – VerbStrG)[43], der sich an das österreichische „Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten“ (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, VbVG)[44] anlehnte (Rn. 120 ff.). Der Entwurf, der „demnächst“ in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden sollte, wurde zwar von der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 14. November 2013[45] begrüßt, stieß aber im Schrifttum auf starke Vorbehalte (Rn. 130 ff.). Als Alternativvorschlag präsentierte der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) im April 2014 einen Vorschlag zur Reform der §§ 30, 130 OWiG.[46] Der Entwurf des VerbStrG wurde bis Ende der Legislaturperiode nicht aufgegriffen, obwohl die Rahmenbedingungen als „günstig“[47] galten. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition (CDU/CSU/SPD; Angela Merkel) für die 18. Legislaturperiode von Ende November 2013 hatte in Aussicht gestellt, das Ordnungswidrigkeitenrecht auszubauen und ein „Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne“ zu „prüfen“.[48]
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In der Wissenschaft wurde die Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht intensiv fortgeführt.[49] Anfang 2016 bildete sich in Köln im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung finanzierten Forschungsprojektes eine Expertengruppe aus Wissenschaft, Justiz, Rechtsanwaltschaft und Ministerialverwaltung. Bereits am 6. Dezember 2017 wurde der „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ (VbSG-E) vorgestellt,[50] der materiell- und verfahrensrechtliche Regelungen vorsah und erneut Elemente des österreichischen VbVG aufgriff.[51] Im Januar 2018 wurden die „Frankfurter Thesen“ präsentiert, deren Verfasser für eine „parastrafrechtliche“ Regelung der Unternehmensverantwortlichkeit eintraten.[52] Auch der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) und der Berufsverband der Compliance Manager e.V. (BCM) setzten sich für die Modernisierung des Unternehmenssanktionsrechts ein.[53] Am 7. Februar 2018 kündigte die wiedergewählte Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag an, das Sanktionsrecht für Unternehmen neu zu regeln.[54] Mitte August 2019 präsentierte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf einer Pressekonferenz den (ersten) Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“,[55] das in Art. 1 das „Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG)“ enthielt. Der Entwurf wurde allerdings im Anschluss nicht offiziell freigegeben, was nahelegt, dass sich die Ressortabstimmung sehr schwierig gestaltete. Kurz darauf, am 5. September 2019, wurde der „Münchener Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ vorgestellt, den Frank Saliger und die Kanzlei Tsambikakis & Partner mit Unterstützung des Verbandes „Die Familienunternehmer“ erarbeitet hatten. Dieser Entwurf versteht sich als „Gegenentwurf“,[56] da er kleine Verbände (Stiftungen, nicht wirtschaftliche Vereine und Unternehmen) aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausnehmen möchte.
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Am 21. April 2020 wurde vom BMJV der finale Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ vorgelegt,[57] dessen Art. 1 eine modifizierte Fassung des Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) enthält (Rn. 134 ff.). Der neue Titel des Entwurfs, der die Stärkung der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt, dürfte der Corona-Pandemie geschuldet sein, die im Frühjahr 2020 zu einem weltweiten „Lockdown“ führte und die Weltwirtschaft in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte. Dem entspricht es, dass das BMJV in dem Schreiben, das die Verbände um Stellungnahme bis zum 12. Juni 2020 bat, ausführt, gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten sei es wichtig, „die große Mehrzahl der Unternehmen zu stärken, die sich an die Regeln halten und die nicht die Notsituation vieler ausnutzen, um sich selbst ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen“. Ungeachtet der zahlreichen kritischen Stellungnahmen[58] und Änderungsvorschläge, die zum Referentenentwurf abgegeben wurden, präsentierte das BMJV bereits am 16. Juni 2020 überraschend den – inhaltlich weitestgehend unveränderten – Regierungsentwurf.[59] Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen fand demnach nicht statt. Am 18. September 2020 bat der Bundesrat in seiner Stellungnahme[60] zum Gesetzentwurf[61] die Bundesregierung, insbesondere die verfahrensrechtlichen Teile grundsätzlich zu überarbeiten und unterbreitete umfangreiche Vorschläge. Zuvor hatten der federführende Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss sogar die Ablehnung des gesamten Entwurfs empfohlen.[62] In ihrer Gegenäußerung vom 21. Oktober 2020 hat die Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, dass sie am Entwurf festhält, und die Prüfung der Vorschläge in Aussicht gestellt.[63] Damit erscheint es möglich, dass das Verbandssanktionengesetz noch in dieser Legislaturperiode verkündet wird und nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren (Rn. 135; der Bundesrat hat eine Verlängerung auf drei Jahre angeregt) in Kraft tritt.
12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 49 Strafbarkeit juristischer Personen › C. Verantwortlichkeit von Verbänden im bisherigen Recht
C. Verantwortlichkeit von Verbänden im bisherigen Recht
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Auch wenn das geltende deutsche Recht keine Verbandsstrafen vorsieht, ist schon lange sichergestellt, dass auch Verbände sanktioniert werden können. Bereits seit 1968 kann bundesweit eine Verbandsgeldbuße festgesetzt werden (Rn. 17 ff.), die präventiven, repressiven und reparativen Zwecken dient und ein „Verbands- bzw. Unternehmensstrafrecht im weiteren Sinne“ konstituiert (Rn. 27). Der Grundsatz „societas delinquere non potest“ gilt daher nur noch für das Kriminalstrafrecht.[64] Weiter lässt sich insb. mit Blick auf die Einziehung feststellen, dass der Grundsatz im Kriminalstrafrecht bereits partiell durchbrochen ist. So kann mit der Einziehung von Tatprodukten, Tatmitteln und Tatobjekten (§§ 74 ff. StGB) – für die Einziehung von Taterträgen (§ 73 ff. StGB) und die Mehrerlösabführung (§ 10 Abs. 2 WiStrG 1954) ist der Strafcharakter umstritten (Rn. 36, 38) – gegen Verbände schon heute z.T. eine „Nebenstrafe“ ausgesprochen werden. Insgesamt betrachtet erfüllt schon das bisherige System die Grundfunktionen eines „echten“ Verbandsstrafrechts.
1. Entstehung, Zweck und Rechtsnatur
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Die Verbandsgeldbuße wurde im Zuge der Großen Strafrechtsreform (Rn. 11) zum 1. Oktober 1968 in § 23 OWiG 1968 geschaffen. Seit 1975 ist die Regelung in § 30 OWiG enthalten. Durch die Einführung einer allgemeinen, einheitlichen und abschließenden Regelung für die Bußgeldverantwortlichkeit juristischer Personen und Personenvereinigungen sollte die vorherige Privilegierung im Verhältnis zu natürlichen Personen beseitigt und die Abschöpfung der Vorteile, die durch Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten Verbänden zugeflossen sind, ermöglicht werden.[65] Bereits zuvor konnten z.T. Sanktionen festgesetzt werden:
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