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Nach der subjektiven Theorie der Rechtsprechung kann hier der Täterwille des B ohne Probleme angenommen und seine Mittäterschaft bejaht werden. Rudolphi selbst will dagegen eine Mittäterschaft nur dann bejahen, wenn beide ihre Tatbeiträge im Ausführungsstadium gegenseitig beherrschen. Mittäterschaft erfordere ein kumulatives und nicht bloß alternatives Zusammenwirken bei der Begehung der Tat selbst. Gerade bei örtlich auseinanderliegenden und nur optionalen Ausführungshandlungen fehle der täterschaftsbegründende Einfluss auf die Verwirklichung des Tatbestands.[255]
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Das ist jedoch auf den ersten Blick nicht zwingend. Denn nach dem gemeinsamen Tatentschluss, d.h. aus subjektiver ex-ante-Sicht, war der Beitrag jedes Einzelnen für das absolute Gelingen erforderlich. Nachträglich ist der Beitrag der einen Person zwar überhaupt nicht erforderlich gewesen, doch ergibt sich dies für die Beteiligten erst während der unmittelbaren Ausführung. Zur Sicherstellung der Erfolgsrealisierung sind aus der Planungsperspektive beide Tatbeiträge erforderlich und nur der Zufall entscheidet, wer von den beiden den Erfolg herbeiführt.
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Daher wird gegen die Lösung Rudolphis eingewendet, dieser Zufall könne nicht darüber entscheiden, ob die Person als Täter oder Teilnehmer zu bewerten sei. Die klassische Tatherrschaftslehre lässt daher auch den nicht im Erfolg wirksam gewordenen Beitrag des anderen genügen und erfasst die Mitwirkung des B im Beispiel als Mitwirkung im Ausführungsstadium. Das arbeitsteilige Zusammenwirken im Ausführungsstadium liege danach gerade im Abschneiden des alternativen Weges. Roxin will den Fall aber u.a. dann anders entscheiden, wenn die alternativen Tatorte örtlich weit auseinanderfallen, z.B. in verschiedenen Städten liegen. Dann begehe nur der tatsächliche unmittelbare Täter die Tat, dem anderen fehle es an einem Beitrag, weil er bei der konkreten Ausführung gar nicht in Aktion getreten ist.[256] Dagegen spricht, dass die Gruppen kaum voneinander abzugrenzen sind, wie der Fall des Flusses deutlich zeigt: Soll es von der Breite des Flusses oder der Entfernung zwischen den Brücken abhängen?[257]
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Die Lösung liegt in einer genauen Bestimmung des Begriffs „Tat“. Der Erkenntnis, dass Tatherrschaft eine (Mit-)Beherrschung während der konkreten Tatausführung erfordert, muss auf der zweiten Ebene die richtige Bestimmung der Tat korrespondieren. Die Tat, deren Ausführung der Mittäter mitbeherrschen muss, ist die im Tatbestand umschriebene. Das verbietet es, die Herrschaft über eine vom Gesetz losgelöste, wie auch immer zu bestimmende „Gesamttat“ ausreichen zu lassen.[258] Die steuernde Beherrschung kann sich nicht auf ein vom jeweiligen Unrechtstatbestand abstrahiertes Geschehen beziehen, sondern muss sich allein als Herrschaft über den tatbestandlichen Erfolg darstellen. Die Beteiligten planen gerade keine gemeinsame Tatbegehung, sondern jeder für sich die Begehung einer gleichartigen Straftat als Einzeltäter.[259] Entsprechend wird auch die Handlung jedes Beteiligten (wie geplant) nur dann für den Erfolg wirksam, wenn das Opfer letztlich in seinen Wirkbereich eintritt.[260] Für den „Isar-Fall“ heißt das: Weil B das tatbestandlich beschriebene Verhalten, die Tötung des O, nicht beherrscht, sondern es allein dem A überlässt, ob dieser die Tat selbstständig ausführt, scheidet eine Mittäterschaft aus.[261]
2. Additive Mittäterschaft
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Bei der sog. additiven Mittäterschaft verbinden sich mehrere Beteiligte insoweit, als sie gleichzeitig eine mögliche Tötungshandlung vornehmen. So verabreden sich z.B. mehrere Schützen gleichzeitig auf das Opfer zu schießen (wie z.B. im Rahmen eines „Erschießungskommandos“), wobei später nicht festgestellt werden kann, wessen Schuss das Opfer tödlich getroffen hat.[262] Dieser Fall lässt sich als Mittäterschaft auffassen, soweit die Beteiligten untereinander wechselseitig bestimmend waren. Bei einer großen Anzahl von Beteiligten, die nicht gegenseitig einen Tatentschluss begründet haben, sondern einer Befehlshierarchie unterliegen, kann das hingegen fraglich sein.[263] Allerdings steht es der Annahme eines gemeinsamen Tatentschlusses nicht entgegen, dass mehrere Schützen dem Befehl einer höheren Instanz folgen, sofern sie sich wechselseitig in ihrem Unrechtsentschluss bestärken.[264] Liegt eine solche wechselseitige Bestimmung der Schützen vor, bedingen die einzelnen Tatbeiträge den konkreten Erfolg, auch wenn die Einzelnen nicht physisch kausal gewesen sein mögen.
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Zwischen beiden Fallkonstellationen der alternativen und additiven Mittäterschaft liegt der Fall der gestaffelten Tatbeiträge („Reserveschützen-Fall“), in dem der zweite Schütze nur schießen soll, wenn der erste Schütze nicht trifft. Roxin will hier mit der gleichen Argumentation wie bei der alternativen Mittäterschaft bei räumlich-zeitlicher Entfernung, nämlich weil der Beitrag der Nicht-Treffenden nicht wirksam werde, eine Mittäterschaft verneinen.[265] Dem ist zuzustimmen. Die Mittäterschaft lässt sich in diesem Fall nicht auf den potenziellen Schuss stützen, weil insoweit kein den konkreten Erfolg bedingender Beitrag geleistet wurde. Zu prüfen bleibt aber, ob der Reserveschütze anderweitig auf das Opfer eingewirkt hat. Ist eine solche Einwirkung aber gegeben, etwa weil dem Opfer Gegenwehr- oder Fluchtmöglichkeiten geraubt werden, so kann der Reserveschütze Mittäter sein.
VII. Versuch und Mittäterschaft
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Im Rahmen des Versuchs ist zwischen dem mittäterschaftlich begangenen Versuch und der versuchten Mittäterschaft zu differenzieren.
1. Mittäterschaftlicher Versuch
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Die Beteiligung am Versuchsdelikt kann in allen Formen vorkommen, Mittäterschaft ist also auch hier möglich. Da die Beteiligung am Versuchsdelikt nicht eigenständig gesetzlich geregelt ist, sind die Voraussetzungen der Mittäterschaft auf den Versuchstatbestand zu beziehen. Für den mittäterschaftlichen Versuch muss einerseits überhaupt die Möglichkeit der mittäterschaftlichen Begehung bestehen sowie zum anderen die Voraussetzungen der Mittäterschaft und diejenigen des Versuchs kumulativ vorliegen.[266] Die Möglichkeit der mittäterschaftlichen Begehung des Versuchs ist dann gegeben, wenn sie auch bei einer vollendeten Tat bestünde.[267]
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Objektive Voraussetzungen der Mittäterschaft sind das Vorliegen eines gemeinsamen Tatplans und eines Tatbeitrages, der Teil einer arbeitsteiligen Begehungsweise ist. Der eigene Tatbeitrag ist im Ausführungsstadium zu erbringen. Bloße Tatbeiträge im Vorbereitungsstadium genügen nicht (vgl. auch oben Rn. 63). Erst im Moment des unmittelbaren Ansetzens überschreitet die bis dahin bloße Vorbereitungshandlung die Schwelle zur strafbaren Unrechtshandlung.[268] Das versuchte Unrecht muss dabei gemeinschaftlich handelnd verwirklicht werden. Teilweise wird vertreten, es müsse das unmittelbare Ansetzen für jeden Mittäter gesondert geprüft werden, so dass jeder Mittäter zu einem anderen Zeitpunkt ansetzen könne (sog. Einzellösung).[269] Dem ist nicht zuzustimmen: Der Versuch beginnt bei der Mittäterschaft für jeden Mittäter in dem Moment, in dem einer von ihnen unmittelbar ansetzt, sog. Gesamtlösung. Nur so wird der mittäterschaftliche Zusammenhang nicht wieder aufgelöst.[270]
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Allerdings bedeutet dies nicht, dass es gänzlich genügt, wenn nur ein Mittäter handelt: Zwar kann, da die Tat nicht zur Vollendung gelangt ist, der Tatbeitrag der Mittäter nur ein Weniger gegenüber der Tatbestandshandlung darstellen, es ist jedoch zumindest ein mitwirkender Beitrag in Form einer Bestärkung zum unmittelbaren Ansetzen des anderen zu fordern, denn das Erfordernis der wechselseitigen-gleichwertigen Bestimmung bei der Tatausführung der Mittäter bleibt auch beim Versuchsdelikt