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Eine (Mit-)Täterschaft durch gemeinsames garantenpflichtwidriges Unterlassen kommt grundsätzlich in zwei Fallkonstellationen in Betracht. Zum einen ist es denkbar, dass zwei Garanten die Erfüllung einer Pflicht unterlassen, die jeder von ihnen allein erfüllen könnte. In diesen Fällen ist eine gegenseitige Zurechnung richtigerweise nicht nötig. Es liegt ein Fall der Nebentäterschaft vor.[215]
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Zum anderen ist es möglich, dass zwei Garanten eine Pflicht verletzen, die sie nur gemeinsam erfüllen könnten. Hier könnte sich jeder darauf berufen, dass – wenn man die gebotene Handlung hinzudenkt – die Pflicht trotzdem verletzt worden und der Erfolg eingetreten wäre. Im Rahmen von Gremienentscheidungen hat die Rechtsprechung einerseits eine Mittäterschaft angenommen: Jedem Garanten könne der Unterlassungsbeitrag des anderen zugerechnet werden, wenn mehrere Garanten, die eine ihnen gemeinsam obliegende Pflicht nur gemeinsam erfüllen können, einen gemeinsamen Tatentschluss hinsichtlich des Unterlassens gefasst haben.[216] In einer anderen Entscheidung hat die Rechtsprechung hingegen eine Nebentäterschaft bejaht.[217] Sie begründet dies damit, dass bei der Beurteilung der sog. Quasi-Kausalität des Unterlassens auf normative Kriterien abzustellen sei: Die Garanten müssten daher jeweils von einem rechtmäßigen Verhalten des anderen ausgehen, da das Recht rechtmäßiges Handeln voraussetze. Es bedürfe daher nicht einer gegenseitigen Zurechnung, wie in den Fällen der aktiven Mittäterschaft. Im Ergebnis ist der Rechtsprechung zu folgen, da jeder Garant die von ihm geforderte Handlung jeweils unterlässt, auch wenn die gebotene Handlung in einer gemeinsamen Rettungsaktion besteht. Das Unterlassen jedes Garanten ist dann für sich genommen bereits erfolgsursächlich. Einer gegenseitige Zurechnung bedarf es in diesen Fällen dann nicht.
2. Zusammenwirken eines Garanten mit einem aktiv Handelnden
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Anders stellt es sich dar, wenn ein Garant eine ihm mögliche und zumutbare Rettungsmaßnahme unterlässt und so die Herbeiführung des Erfolgs durch einen aktiv Handelnden ermöglicht. In diesem Fall ist auch nach der Äquivalenztheorie das Unterlassen des Garanten „quasi-kausal“ für den Erfolg. Doch stellt sich auf der Zurechnungsebene die Frage, wie das Zusammenwirken mit dem aktiv Handelnden zu beurteilen ist. Dem Garanten kann hier der Erfolg grundsätzlich auch (mit-)zugerechnet werden. Fraglich ist nur, ob ihm die Tat als Täter oder als Teilnehmer zuzurechnen ist.
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Diese Frage, inwiefern der garantenpflichtwidrig Unterlassende beim Zusammenwirken mit einem aktiv Handelnden Täter – und das heißt eben auch Mittäter – sein kann, wird nicht einheitlich beurteilt. Einigkeit besteht darin, dass eine Täterschaft bei eigenhändigen Delikten ebenso ausscheidet, wie in den Fällen, in denen einem Garanten eine besondere Absicht oder ein täterschaftsbegründendes Merkmal fehlt.[218] Im Übrigen aber herrscht eine kaum übersehbare Meinungsvielfalt, auch weil der Gesetzgeber eine detailliertere Regelung vermieden hat, um „nicht in den dogmatischen Streit um die Frage einzugreifen, ob bei Unterlassungsdelikten überhaupt eine Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme möglich ist.“[219]
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An je einem Ende des Meinungsspektrums stehen zwei Extreme, wonach der garantenpflichtwidrig Unterlassende – abgesehen von den oben genannten Einschränkungen – stets Täter ist[220] bzw. wonach der Unterlassende stets nur Gehilfe ist.[221] Beides wird den interpersonalen Besonderheiten aufgrund seiner Pauschalität nicht gerecht. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 StGB offenbar die Möglichkeit einer Teilnahme durch ein garantenpflichtwidriges Unterlassen voraussetzt, so dass nicht die Garantenstellung für sich bereits Täterschaft begründen kann.[222] Auch die Entsprechensklausel des § 13 Abs. 1 StGB spricht dafür, die beim Begehungsdelikt gültige Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme beim Unterlassungsdelikt nicht einfach zu übergehen.[223]
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Die Lösung muss in einer differenzierenden Betrachtung liegen. Dabei wird eine Fülle von Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Zum Teil wird versucht, auch hier das Kriterium der Tatherrschaft fruchtbar zu machen. Diese Versuche sind aber jedenfalls insoweit nicht tragfähig, als ein naturalistisch-instrumentales Verständnis von Tatherrschaft die Haftung als Unterlassungstäter nicht befriedigend zu erklären vermag.[224] Der Unterlassende kann insoweit allenfalls eine „potenzielle Tatherrschaft“ haben.[225] Aber auch Versuche, nach einer „potenziellen Tatherrschaft“ abzugrenzen und zu fragen, ob der Gehilfe problemlos (Täterschaft) oder schwer (Beihilfe) den Erfolgseintritt hätte hindern können,[226] sind abzulehnen, weil sie die Abgrenzung der Beliebigkeit preisgeben. Zu unbestimmt ist schließlich die Vorgehensweise der Rechtsprechung hier nach dem Täterwillen abzugrenzen[227] oder das Abstellen auf eine „wertende Gesamtbetrachtung“[228].
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Eine weitere Möglichkeit besteht darin, nach der Art der Garantenpflicht zu abzugrenzen: Der Beschützergarant sei stets Täter, der Überwachungsgarant stets nur Gehilfe.[229] Es wird aber auch genau umgekehrt differenziert.[230] Auf derselben Linie liegt letztlich Jakobs, der freilich schon bei den Garantenpflichten eine andere Differenzierung zugrunde legt und deshalb auch bei der Beteiligung danach differenziert, ob die Garantenpflicht kraft institutioneller Zuständigkeit oder kraft Organisationszuständigkeit bestehe.[231] Nur im ersteren Fall gehe es um ein Pflichtdelikt und sei stets Täterschaft anzunehmen, im letzteren folge die Abgrenzung denselben Regeln wie bei Begehungsdelikten, weshalb je nach Gewicht des Tatbeitrags auch Beihilfe vorliegen könne. Eine Mittäterschaft solle daher dann vorliegen, wenn der oder die Beiträge des Unterlassenden in ihrem Gewicht dem des Haupttäters gleichwertig seien.[232]
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Eine genauere Differenzierung nach der Art der Garantenpflicht nimmt Murmann vor: Ziele die Pflicht – wie meistens beim Beschützergarant – auf die Verhinderung des Erfolgs, so sei Täterschaft gegeben. Ziele die Pflicht dagegen nur auf die Verringerung des Risikos einer Straftatbegehung (z.B. Sicherungspflichten nach dem WaffG), so liege grundsätzlich nur Beihilfe vor. Anders sei dies aber dann, wenn der dazwischentretende Haupttäter nicht eigenverantwortlich handle oder die Garantenpflicht aus einer Organisationszuständigkeit resultiere. In diesen Fällen entfalle die Haftungsbeschränkung und der Garant habe als Täter für den Erfolg einzustehen.[233]
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Die Unterscheidung nach dem Inhalt und der Art der Garantenpflichten kann nicht überzeugen. Die Differenzierung zwischen Beschützer– und Überwachergaranten ist schon deshalb nicht einsichtig, weil hinsichtlich der Erfolgsabwendungspflicht kein Unterschied der Pflichten besteht.[234] Außerdem lässt sich diese Trennung nicht durchhalten: Ist der Bademeister Beschützergarant für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Gäste in Bezug auf das Wasser oder ist er Überwachergarant in Bezug auf die Gefahren des Wassers?[235]
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Richtigerweise muss sich ein Kriterium finden lassen, dass eine personale (Mit-)Zurechnung des Unrechts begründen kann. Die h.M. steht hier vor dem Problem, dass das Kriterium der Tatherrschaft nicht auf das Unterlassen zu passen scheint, weil der Unterlassende nichts beherrscht. Umgekehrt kann es keine Lösung sein, die Tatherrschaft grundsätzlich schon aus der Pflichtenstellung abzuleiten. Löst man sich dagegen von einem naturalistischen Verständnis der Herrschaft und bezieht die personalen Beziehungen in die Betrachtung ein, so kann auch beim Unterlassenden von einer Herrschaft über das im Tatbestand vertypte Unrecht gesprochen werden.
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Problematischer sind die Fälle, in denen ein echtes Nebeneinander von Handlung oder Unterlassung vorliegt, wenn also die Verhinderung des Erfolgs nur durch Einflussnahme auf den Täter erfolgen konnte, während ein Beseitigen