V. Fahrlässigkeit und Mittäterschaft
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Bei Fahrlässigkeitsdelikten wird von der Rechtsprechung und großen Teilen der Literatur sowohl eine Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme als auch eine Differenzierung hinsichtlich der Täterschaftsformen aufgrund des hier geltenden Einheitstäterbegriffs abgelehnt, so dass auch eine fahrlässige Mittäterschaft nicht in Betracht kommt.[237] Eine (steigende) Zahl der Autoren in der Literatur bejaht hingegen die Möglichkeit einer Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitsdelikten.[238] Aus dem Wortlaut und Zweck des § 25 StGB ergibt sich (anders als bei den Teilnahmeregelungen) kein zwingender Grund, die Täterschaftsformen auf vorsätzliches Verhalten zu beschränken, insoweit wäre eine fahrlässige Mittäterschaft mit dem Gesetz vereinbar.
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Bedeutung kommt einer (möglichen) fahrlässigen Mittäterschaft insbesondere in den Fällen zu, in denen mehrere in Absprache miteinander sorgfaltswidrige Handlungen begehen, der Erfolg aber nur auf einer dieser Handlungen äquivalent-kausal beruht, und insoweit insbesondere dann, wenn sich die konkret kausale Handlung nicht aufklären lässt.[239] Danach sollen beispielsweise zwei Arbeiter, die jeweils nacheinander mehrere Balken von einem Gerüst auf die Straße werfen, von denen einer einen Passanten versehentlich tödlich trifft, beide wegen fahrlässiger Tötung haften, auch wenn nicht geklärt werden kann, welcher der Balken letztlich den Passanten tödlich getroffen hat.[240] Ob sie gemeinsam nur einen tödlichen Balken geworfen haben oder abredegemäß nacheinander, müsse unerheblich sein.
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Fraglich ist indes bereits, ob eine wechselseitige Zurechnung bloß fahrlässigen Handelns legitimierbar ist.[241] Das setzt zwar nicht notwendig eine exakte Übertragbarkeit der Voraussetzungen vorsätzlicher Mittäterschaft voraus, erfordert aber, dass sich wenigstens entsprechende Voraussetzungen für Fahrlässigkeitsdelikte aufstellen lassen. Teilweise wird die Verabredung zu einem sorgfaltspflichtwidrigen Verhalten als gemeinsames Handlungsprojekt und sodann die gemeinsame Ausführung als für den Erfolg kausale Tatbeiträge angesehen.[242] Konstruierbar wäre eine fahrlässige Mittäterschaft insbesondere dann, wenn sich ein Handlungsprojekt ohne konkreten Erfolgsbezug denken ließe. Dieses sieht beispielsweise Schlehofer in der Verabredung zur Begehung der letztlich pflichtwidrigen Beiträge,[243] wie es auch seiner Konzeption der vorsätzlichen Mittäterschaft entspricht (dazu oben Rn. 38 f.). Einem solchen Handlungsprojekt ohne gemeinsamen Zweck fehlt aber das einende Element, und es kann daher einen gemeinsamen Tatplan nicht ersetzen.[244] Es ist nicht einmal (notwendigerweise) die Gefahrerhöhung, die Ziel des Handlungsprojekts ist, denn die Mittäter vertrauen ja gerade auf den guten Ausgang.[245]
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Das Abstellen auf die (bewusst-gemeinsame) Verletzung derselben Sorgfaltspflicht[246] ist nicht zielführend, da die jeweils sorgfaltswidrig handelnden Täter nicht dieselbe Sorgfaltspflicht verletzen können.[247] Während beispielsweise der den letztlich unmittelbar erfolgsursächlichen Balken werfende Täter die Sorgfaltspflicht verletzt, keinen Balken vom Gerüst zu werfen, wenn er nicht erkennen kann, ob sich jemand unter dem Gerüst befindet, verletzt der andere diese Sorgfaltspflicht gerade nicht, sondern hat allenfalls zuvor eine gleichartige, aber immer noch nicht dieselbe Sorgfaltspflicht verletzt. Allein das Abstellen auf das objektive Bestehen der Pflicht kann darüber nicht hinwegtäuschen, weil grundsätzlich jedermann objektiv dieser Sorgfaltspflicht unterliegt. Und darauf, ob der andere zuvor eine gleichartige Sorgfaltspflicht auch verletzt hat, kann es ebenso wenig ankommen. Denn eine gemeinsame Vornahme der sorgfaltswidrigen Handlung liegt gerade nicht vor,[248] sondern jeder Fahrlässigkeitstäter begeht seine eigene sorgfaltswidrige Handlung. Die Frage, ob diese Handlung einem anderen zugerechnet werden kann, kann auch nicht unter Verweis auf die gemeinsame Begehung übergangen werden, denn es liegt gerade ein Handeln vor, welches nacheinander erfolgt. Auch hilft es nicht weiter, statt auf die Handlung auf die gemeinsame Gefahrschaffung abzustellen,[249] denn auch diese setzte eine gegenseitige Handlungszurechnung schon voraus – sonst läge gerade keine gemeinsame Gefahrschaffung vor, sondern die Schaffung zweier gleichartiger Gefahren.
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Es bedarf daher einer Begründung, warum dem Einzelnen nicht nur den Erfolg seiner eigenen Sorgfaltspflicht, sondern die Sorgfaltspflichtwidrigkeit eines anderen und der dadurch herbeigeführten Erfolg zugerechnet werden kann. Einen solchen Grund kann die Lehre von der fahrlässigen Mittäterschaft jedoch nicht benennen. Anders als bei vorsätzlichem Handeln ist bei fahrlässigem Handeln eine Verletzung gerade nicht intendiert. Es existiert daher kein gemeinsamer Tatentschluss als Grundlage und Grenze der gemeinschaftlichen Tatbegehung. Umgekehrt bestärken sich die Betroffenen nicht allein durch gleichförmiges Verhalten in ihrem Unrechtsentschluss. Damit fehlt es an einem Zurechnungsgrund.[250] Der Verweis auf die Möglichkeit der Mittäterschaft bei erfolgsqualifizierten Delikten[251] hilft insoweit nicht weiter, weil bei jenen wegen der Vorsätzlichkeit des Grunddelikts ein Anknüpfungspunkt für die Handlungszurechnung besteht, welcher bei einer bloß sorgfaltswidrigen Handlung fehlt. Vgl. zur Mittäterschaft bei erfolgsqualifizierten Delikten Rn. 69.
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Die Annahme einer fahrlässigen Mittäterschaft würde daher letztlich dazu führen, dass auf eine individuelle Mitwirkung und auch auf eine individuelle Sorgfaltspflichtverletzung verzichtet und nur noch auf die kausal werdende, sorgfaltswidrige Handlung eines Beteiligten an dem Geschehen abgestellt wird. Ohne Benennung eines Grundes, warum die anderen Beteiligten sich gerade diese Handlung zurechnen lassen müssen, führt diese Konzeption letztlich zum Grundsatz des versari in re illicita: Jedem an einer unerlaubten Gefahrschaffung Beteiligten werden alle aus dieser Gefahrschaffung entstehenden Erfolge allein qua seiner Beteiligung an dem nicht auf eine Rechtsgutsverletzung gerichteten vorherigen Handeln zugerechnet.[252] Mit einem auf individuellen Verschulden aufbauenden Strafrecht und der Voraussetzung, dass sich der Täter selbst als mitwirkend an der Rechtsgutsverletzung auszeichnet, ist das nicht vereinbar.
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Denkbar wäre eine fahrlässige Mittäterschaft dort, wo sich die Beteiligten tatsächlich gegenseitig in ihrem Entschluss zu sorgfaltswidrigem Verhalten bestärken und gemeinschaftlich die Tat ausführen, also im Beispiel, dass beide Arbeiter gemeinsam den Balken werfen, von dem der Passant tödlich getroffen wird. In diesem Fall fehlt allerdings die Notwendigkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft, da es sich hier um eine Form der Nebentäterschaft handelt:[253] Jeder Beteiligte ist nur für sein eigenes sorgfaltspflichtwidriges Handeln verantwortlich.
1. Alternative Mittäterschaft
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Bei der sog. alternativen Mittäterschaft wirken zwei oder mehr Beteiligte in einer Weise zusammen, die mehrere als unsicher vorhergesehene Kausalverläufe abdecken und so in allen Fällen ein Gelingen der Tat sichern soll. Die Beteiligten wissen aber vorab, dass nur einer von ihnen den letztlich wirksamen Akt vornehmen wird. Deutlich wird das Problem an einem von Rudolphi