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Der Begriff der Tatherrschaft ist in der Lehre Roxins jedoch eher Grundidee denn Prinzip. Verzichtet wird im Wesentlichen auf eine Orientierung am Handlungsbegriff und eine einheitliche Begriffsbestimmung der Täterschaft.[89] So soll bei Pflichtdelikten und eigenhändigen Delikten die Tatherrschaft durch andere Kriterien ersetzt werden.[90] Eine einheitliche Täterlehre wird damit aufgegeben und durch drei verschiedene Teiltheorien ersetzt, was die Gefahr in sich birgt, zu einem ergebnisorientierten Einzelfallstrafrecht zu führen.[91] Die aktuellen Tatherrschaftslehren vermögen daher weniger eine Begründung für die gegenseitige Zurechnung von Handlungen im Rahmen der Mittäterschaft zu geben, sondern gehen vor allem normativ-beschreibend vor[92] (vgl. näher → AT Bd. 3: Noltenius, § 50 Rn. 47 ff.). Mittäterschaftliches Handeln wird so vielfach als „arbeitsteiliges Zusammenwirken in funktionaler Tatherrschaft“ beschrieben.[93] Die Tatherrschaft des Mittäters solle sich dabei aus seiner Funktion an der Tatausführung ergeben: Er übernehme eine Aufgabe, die für die Realisierung des Tatplans wesentlich sei und ihm durch seinen Teilbeitrag die Beherrschung des gesamten Geschehens im Ausführungsstadium ermögliche.[94] Die Abgrenzung zur Teilnahme erfolgt so primär (unter Berücksichtigung des Tatplans) im Hinblick auf das äußere-objektive Geschehen.
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Eine bloß funktionale Betrachtungsweise vermag jedoch keine ausreichenden Kriterien anzugeben, um die Mittäterschaft von der Beihilfe abzugrenzen. Denn ob derjenige, der bei einem Einbruch „Schmiere steht“, oder derjenige, der das Opfer festhält, damit der andere es körperlich misshandeln oder ausrauben kann, Gehilfe oder Mittäter ist, lässt sich nicht allein unter Rückgriff auf das äußere Geschehen bestimmen. Eine Mitwirkung bei der Tatausführung in funktionaler Abhängigkeit vom anderen kann auch bei der Beihilfe vorliegen und begründet weder die Abgrenzung zur Mittäterschaft noch überhaupt die Zurechnung der gesamten Tat zum Mitwirkenden. Weder die beidseitige Beteiligung an der Tatausführung noch der gemeinsame Willensentschluss als solcher vermögen daher mittäterschaftliches Handeln zu begründen. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Mittäter durch den gemeinsamen Entschluss wechselseitig zum Tatmittel bei der Verfolgung des eigenen und gemeinsamen Zwecks machen.[95] Maßgeblich muss daher auch der Wille der Beteiligten sein und dieser dahingehend untersucht werden, ob hier ein gemeinsamer, gleichberechtigter Unrechtsentschluss vorliegt, durch welchen nicht nur einseitig sondern wechselseitig die Tatmacht der Beteiligten erweitert wird, oder ob der eine Beteiligte seinen Unrechtsentschluss dem Willen des Ausführenden bloß unterordnet.[96]
IV. Mittäterschaft auf der Grundlage neuerer Ansätze in der Literatur
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In kritischer Auseinandersetzung mit der Tatherrschaftslehre richten neuere Ansätze in der Literatur den Blick auf die Verabredung in Bezug auf die spätere Tat bzw. den gemeinsamen Tatentschluss und versuchen so, mittäterschaftliches Handeln zu begründen.
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Heinrich stützt beispielsweise die Mittäterschaft auf das Kriterium des Entscheidungsverbundes.[97] Danach ist Täter grundsätzlich der Entscheidungsträger, also derjenige, der als Normadressat die Entscheidung für einen „Rechtsgutszugriff“ trifft, als deren unmittelbare Umsetzung sich das tatbestandliche Geschehen darstellt. Bei der Mittäterschaft gehe es dementsprechend um eine gemeinschaftliche appellwidrige Entscheidung, mithin um einen Entscheidungsverbund, der kraft der Vergemeinschaftung als je eigene Entscheidung der Mittäter anzusehen sei. Dann lasse sich das Tatgeschehen als unmittelbare Umsetzung der gemeinsamen und damit auch als der in jener liegenden einzelnen Entscheidungen ansehen. Dazu bedürfe es keiner Mitwirkung jedes Mittäters an der tatbestandlichen Ausführungshandlung, jeder müsse aber wenigstens durch Passivität an der Tatausführung teilhaben (z.B. als Zuschauer).
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Damit kreiert Heinrich bei der Mittäterschaft eine Art Gesamtperson, die die Entscheidung trifft, lässt aber die Frage offen, wieso die Entscheidung der „imaginären Gesamtperson“ gerade eine Entscheidungsverantwortlichkeit jedes Einzelnen begründen kann. Diese Konzeption läuft zudem auf eine Wiedereinführung der früheren Lehre vom Komplott hinaus, die allein die Verbrechensverabredung ohne Rücksicht auf objektive Umstände der Planumsetzung bestrafte und widerspricht damit dem heutigen Wortlaut des § 25 Abs. 2 StGB, der über den gemeinsamen Tatplan hinaus auch eine gemeinsame Begehung erfordert.[98]
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Puppe und Hoyer sehen hingegen die Mittäterschaft als wechselseitige Anstiftung, in welcher der eine – entsprechend der Konzeption beider Autoren für die Anstiftung (dazu → AT Bd. 3: Uwe Murmann, Anstiftung § 53 Rn. 23, 25) – im Rahmen eines Unrechtspakts einen faktisch bestimmenden Einfluss bzw. die Motivherrschaft über den anderen und der andere über den einen habe.[99] Dies ist insofern zutreffend, als auch die Mittäterschaft ein Element wechselseitigen intellektuellen Sich-Bestimmens enthält.[100] Im Gegensatz zur Anstiftung richtet sich aber der Unrechtspakt bei der Mittäterschaft auf die gemeinsame Tatausführung.
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Die wechselseitige Anstiftung kann die Mittäterschaft jedoch nicht hinreichend erklären, weil jene gerade keine gemeinsame Ausführung der Haupttat erfordert. Offen bleibt bei der Erklärung der Mittäterschaft als wechselseitige Anstiftung auch, warum gerade daraus eine wechselseitige täterschaftliche Zurechnung folgen soll.[101] Umgekehrt fordert die tätergleiche Strafbarkeit des Anstifters einen Ausgleich für die fehlende gemeinsame Tatausführung, welche in der übergeordneten Machtstellung des Anstifters zu sehen ist. Die Willensmacht des Anstifters gegenüber dem Haupttäter ist also größer als die der Mittäter untereinander,[102] weshalb auch die Erklärung der Mittäterschaft als wechselseitige Anstiftung nicht befriedigen kann. Die Mittäterschaft kann durch eine derartige Aufspaltung des interpersonalen Verhältnisses nicht zufriedenstellend erklärt werden, da die äußere Einheit, in der die Mittäter die Verletzung begehen, nicht hinreichend mit einbezogen wird.
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Nach der Konzeption von Schlehofer soll Voraussetzung der Täterschaft nicht die Tatherrschaft sein, sondern „das Fehlen einer zwischengeschalteten vorsätzlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Verwirklichung des Tatbestandes durch einen anderen“.[103] So sei die Zwischenschaltung einer solchen Tat vielmehr eine typische Form der Teilnahme. Die über § 25 Abs. 1 StGB hinausgehende Haftungserweiterung nach § 25 Abs. 2 StGB und damit die Möglichkeit, für die vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhafte Tat eines anderen verantwortlich zu sein, lasse sich aus der (ernsthaften) Verabredung mehrerer legitimieren. Denn diese Verabredung begründe die Gefahr, dass die vereinbarten Tatbeiträge auch erbracht würden. So sehe das Gesetz in § 30 Abs. 2 StGB bereits die Verabredung als Teil der Mittäterschaft an. Die Beteiligten verpflichteten sich durch ihre Verabredung gegenseitig, ihre verabredeten Tatanteile auch zu erbringen. Die der Alleintäterschaft gleichstehende Schaffung der tatbestandsmäßigen Gefahr liege bei der Mittäterschaft also in der Verabredung.[104]
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Zutreffend ist, dass jedenfalls die gemeinsame Verabredung zur Tat das Fundament der späteren Tatausführung darstellt. Damit kann jedoch noch nicht erklärt werden, warum der Mittäter trotz zwischengeschalteter vorsätzlicher, rechtswidriger Tat(beiträge) eines anderen, als Täter bestraft wird. Eine bloße Gefahrschaffung genügt für sich noch nicht, um eine täterschaftliche Mitzurechnung zu begründen. Zudem ist im Rahmen der Verbrechensverabredung des § 30 Abs. 2 StGB zu fragen, ob dieser überhaupt bereits strafbares Unrecht normiert oder nicht möglicherweise lediglich eine Vorbereitungshandlung zu strafbarem Unrecht hochstilisiert (vgl. auch Rn. 119). Der Ansatz Schlehofers fällt insoweit daher