Für den Wintermorgen, an welchem die vereinbarte Übergabe stattfinden sollte, hatte Tesson noch Begleiter in Erwartung angekündigt, diese sollten ihn und das erworbene Loretium auf dem Heimweg zum Hofe Nekkets III. beschützen – auch wenn in diesem Teil des Landes Räuber eher spärlich gesät waren, niemand von uns schöpfte Verdacht. Während der Hofmagier bereits wie vereinbart im Morgengrauen eintraf und auch den vereinbarten Betrag dabeihatte, ließen seine Begleiter und Begleiterinnen noch auf sich warten.
„Sie wollten noch ein wenig Rast machen, während ich schon so sehr darauf brannte, dass ich mir keinen weiteren Aufschub gönnen konnte und mochte – ich bin also vorzeitig aufgebrochen“, hatte sich Tesson erklärt.
Mein Vater und der königliche Hofmagier vollzogen den Handel und kurze Zeit darauf hörten wir schon das Traben sich nähernder Pferde. Wir vermuteten, dass es sich dabei um die besagte Nachhut handelte. Doch statt wie vereinbart und wie gewöhnlich sich mit einem Klopfen an der Pforte anzukündigen, verstummten plötzlich die Geräusche der sich herannähernden Begleiter Tessons. Dieser schaute uns mit fragendem Blick an. Mein Vater schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, und deutete mir schweigend den Weg zur geheimen Kammer in dem verborgenen, hinteren Teil des Hauses. Kurz darauf war ich für keinen mehr sichtbar in der geheimen Kammer verschwunden, aber in der Lage, das Geschehen durch ein kleines Guckloch weiter zu verfolgen. Alle Geräusche der ausstehenden Nachhut waren verschwunden, bis sich Kommendes offenbarte, und das, was geschah, war weitaus entsetzlicher als alles, was ich bisher kannte oder mir bis dato vorzustellen vermochte. Es war klar ersichtlich, dass unter den gewaltsam in unser Heim eindringenden Männern und Frauen – einer Truppe, bestehend aus drei Männern und einer Frau – ein weiterer Elf der Anführer war. Der selbst für einen Elfen sehr hochgewachsene Mann mit dem kurzen, grauen Haar wurde von zwei bulligen, bewaffneten Männern – beide mit langem, brünettem Haar –, einer Magierin mit langem, blondem Haar und einem Magier mit langem, rotem Haar begleitet – deren Befähigung zur Magie war offensichtlich. Die Bewaffneten hatten zusätzlich zu ihren mitgeführten Breitschwertern noch Rüstungen aus Leder und Metall an, auch magische Amulette waren zu sichten. Es war unmissverständlich, warum die fünf ehemaligen Begleiter Tessons nicht den gewöhnlichen Weg gewählt hatten; der grauhaarige Elf forderte ohne Umschweife mit harschem Ton die Herausgabe des Splitters Loretium.
Durch den offenkundigen Verrat erzürnt, erhob sich der Zauberer Tesson und eine schwarze Aura – ähnlich schwarzem Licht – umgab ihn mit einem Mal. Er fing an den hochgewachsenen Mann zu beschimpfen, doch dieser ließ sich dadurch nicht ansatzweise beeindrucken, wischte die Worte des königlichen Magiers mit einer Handbewegung beiseite: „Wie könnt Ihr es wagen?! Ihr seid ein Gefolgsmann König Nekkets?!“, protestierte Letzterer noch, aber vergebens: Durch die kleine Linse der geheimen Kammer meines Versteckes sah ich, wie der mir unbekannte Mann hämisch grinste. Die beiden Kriegerelfen hatten schon ihre Schwerter gezückt, und da unsere Magd nicht zugegen war und auch nicht mehr erschien, vermutete ich, dass sie von den Räubern bereits getötet wurde.
Kurz sann ich darüber nach, was ich zum Schutze meines Vaters und Tessons tun könne, doch ich war lediglich eine unbedarfte, junge Frau. Noch während der höfische Magier in das Streitgespräch verwickelt war, bereitete die elfische Hexe anscheinend einen Zauber vor, da es in ihrer rechten Hand glühte. Tesson war nicht untätig, er war plötzlich von einer Art Schutzschild umgeben, aber er war leider viel zu langsam, um dem Feuerball der blonden Magierin auszuweichen – vielleicht war sein Schutzzauber auch zu schwach. Durch das Guckloch sah ich noch, wie es in den Augen meines Vaters zuckte, so als ob er sich mit einem letzten Blick vergewissern wollte, ob es mir gut ginge, und ich betete innerlich, nicht hinter der Fassade entdeckt zu werden. Ich musste einen lauten Aufschrei unterdrücken, als ich hilflos mitbekam, wie mein Vater trotz dessen, dass er den Dieben und Diebinnen den Kristall aus freien Stücken anbot, von einem der muskelbepackten Krieger attackiert wurde. Possis schaffte es zwar, dem Schwertstreich dieses braunhaarigen Elfen auszuweichen, und hieb ihm den spitzen Brieföffner, der griffbereit auf der vorbereiteten Tafel gelegen, in den Hals – doch er sollte seinen Triumph nicht mehr auskosten können, schon streckte ihn das Schwert seines Kollegen nieder. Auch brannte bereits die Wandvertäfelung durch die brennende Leiche des mittlerweile toten Tesson.
Mit tränenheißem Blick – ich hatte gerade meinen Vater verloren, mit angesehen, wie er gemordet wurde – verfolgte ich, dass der grauhaarige Mann, der mir immer bekannter vorkam, die anderen Verbliebenen heischte, alles noch mal genau zu durchsuchen, zu durchkämmen – und er offenbar von den Flammen unbeeindruckt in aller Ruhe den Splitter Loretium aus der Hand meines toten Vaters nahm und den winzigen Kristallsplitter sorgfältig verstaute.
Vor Tränen, Rauch und Schmerzen war ich kaum in der Lage zu atmen, ich hoffte inbrünstig, nicht Opfer der Flammen zu werden – ich war nun vollständig auf mich gestellt. Ich hatte Glück im Unglück, denn mit dem scharfen Ausruf: „Lasst uns von dannen ziehen!“, und einer weiteren Aufforderung: „Bereitet alles dem Feuer zum Opfer!“, machten sich die verbliebenen Schurken daran, zu verschwinden. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, Notwendigstes im hinteren Teil meines Versteckes zu verstauen, mir leise einen Mantel überzuwerfen, darauf bedacht, sollten die vier wiederkehren, mich nicht entdecken zu lassen, da fraßen sich die Flammen schon zu mir durch.
Ich beschloss, mein Leben von da an als Bettelmädchen zu fristen, darauf achtend, nicht erkannt oder entdeckt zu werden, während ich gleichzeitig auf Rache sann. Der Mann, der meinen Vater mordete, dies meine ich zur Gewissheit zu wissen, war jener Schuft, der kurze Zeit darauf zu einem Fürsten in Mino ernannt wurde: Serktat.
Auf dem Weg nach Masir
Die Brüder ritten, lediglich von kürzeren Rasten unterbrochen, den ganzen Abend und die ganze Nacht durch; erst lange nachdem der Tag angebrochen war, beschlossen sie, ausgiebig zu ruhen, und suchten sich dafür einen warmen Platz. Die gut eingerittene, graue Stute folgte dem Hengst, sodass sich der geblendete Azan einzig an ihr festzuklammern brauchte, auf die Führung seines Bruders vertrauend. Beide ritten sie mit wenig Gepäck und für ihr Auskommen führten sie – wie vorab geplant – einen Teil ihrer Ersparnisse an Silberlingen mit. Sie machten in dem kleinen Dörfchen Wasur halt, welches auf einer freundlichen Anhöhe lag, und Pyron band die zwei Pferde an einen Baum bei einer Tränke, unweit der örtlichen Taverne. Der Drachenartige überprüfte den Sitz seines Mantels und seiner Kapuze, dann sprach er zu dem blinden Azan: „Warte hier, Bruder! Ich werde versuchen, etwas Nahrung für uns und Futter für die Tiere zu besorgen.“
Dieser Herbstvormittag war sonnig und klar und der Geblendete quittierte die Worte des Ältesten schweigend. Kurze Zeit darauf verschwand der Verwandelte im Inneren der Taverne „Zum fiedelnden Zwerg“. Azan suchte sich währenddessen tastend einen Platz unter dem Baum, lauschte dem Schnauben der Pferde, dann rastete er. Leise zwitscherten