Azan schwieg einen Moment, da er merkte, dass er die Meerfrau an einem empfindsamen Punkt getroffen hatte. Hatte sie nichts von ihrer Herkunft gewusst? Wie sich jedoch Auroria nicht zu dem eben Gehörten äußerte, fuhr der blinde Seher mit seinen Ausführungen fort: „Eine Elfenartige spielt auch eine wichtige Rolle, vielleicht sogar die bedeutsamste! Sie trägt einen Splitter Loretium mit sich, verborgen in dem kleinen Finger ihrer linken Hand – unabdingbar, um Hyrus zu erlösen! Ich meine zu wissen, dass sie sich in der Stadt Masir befindet, jedoch weiß ich nicht, wie wir sie dort finden könnten. Alle Versuche, ihren genaueren Aufenthaltsort ausfindig zu machen, werden durch eine Art Schutzzauber verhindert. Wenn wir nach Masir reisen wollen, werden wir mit Pferden zwei Tage hierzu benötigen. Auch kenne ich noch nicht ihren Namen.“
Abermals schwieg der Seher, er erwartete eine Reaktion und als die Meerfrau das Wort ergriff, lächelte Azan milde: „Ich habe tatsächlich nichts von meinem Vater gewusst“, sagte Auroria. „Doch sprecht, teurer Seher, was wisst Ihr von meiner Mutter?“
Zwar hatte Azan mit dieser Frage gerechnet, dennoch durchlief ein Zucken sein Lächeln und er schwieg. Obwohl Pyrons Haut voller harter Schuppen war und sein Kopf dem eines Krokodiles glich, legte sich seine Stirn in Falten. Azan strich sich durch sein Haar, überprüfte den Sitz seiner Binde, suchte unterdessen die Worte, sich Auroria zu erklären. Für einen Moment lang war die absolute Stille drückend.
„Es wird Abend, bald ist es Nacht, dann wird’s kühl“, durchbrach Pyron das Schweigen, machte sich daran, ein Feuer im Ofen zu entzünden. Und auch hier, in der ehemaligen gemeinsamen Wohnung der Brüder, war der Schmerz der Erfahrung am Strande noch zu verspüren, der Geruch ihres geliebten Hyrus schien hier überall anzuhaften, was ganz besonders für Auroria in diesem Moment schlimm war – Pein wallte in ihrem Inneren.
„Wenn Ihr Euch nicht dazu äußern wollt, Seher Azan, so lasst dies. Manche Dinge, dies weiß auch ich, obwohl der Hellsicht unbedarft, brauchen ihren besonderen Raum und die ihnen eigene Zeit. Habt vielen Dank für alles, das Ihr uns kundgetan.“ Auroria strich dem Blinden sacht mit ihren Händen durch dessen Haar, woraufhin dieser zuerst wieder lächelte, dann nickte.
„So sei es, holde Maiden aus dem Meere stammend.“
„Masir befindet sich also zwei Tagesreisen zu Pferde von hier entfernt“, wurde der ruhige Moment von dem Drachenmann unterbrochen. „Wir tragen dafür Sorge, dass für Euer Auskommen in der Zeit unserer Unternehmung gesorgt ist, Meerfrau. Wir, meine Brüder und ich, haben einen ersparten Bestand an Silberlingen; er wird sowohl für Euch als auch für uns ausreichen, somit wird für Euch während unseres Fortseins gesorgt sein, Auroria.“
Die Meerfrau stimmte Pyrons Vorschlag mit einem Kopfnicken zu, sie erhob sich und begann sich in dem Heim der Brüder umzusehen.
„Wir werden noch heute Abend aufbrechen. Wenn es eine Intrige zu Hofe des Königs gibt und wir alle mit dem Schlimmsten rechnen müssen – entsetzlichen Ereignissen –, dann dürfen wir bestimmt keine Zeit verlieren. Schon alleine Hyrus’ wegen nicht.“
Einstimmig wurde die kleine Ansprache des Verwandelten von Azan und Auroria angenommen.
Mit dem langsam aufziehenden Nebel des hereinbrechenden Abends verließen Pyron und Azan das gemeinsame Heim. Der Drachenartige war zu diesem Zeitpunkt mit einem langen, braun-grauen Mantel mit Kapuze bekleidet, darauf bedacht, weiterhin unerkannt zu bleiben. Pyron führte den Geblendeten an der Hand, half ihm mit seinem Reisegut und beim Aufsatteln. Es war geplant, dass der Älteste der Brüder auf dem braunen Hengst voranritt, während sich Azan fest an seiner grauen Stute hielt, die für gewöhnlich dem männlichen Pferd einfach folgte. Mit einem letzten wehmütigen Blick zurück machten sich die beiden auf den beschwerlichen Weg nach Masir.
Von der Nacht zum Tag, von der Dunkelheit ins Licht,
durch die Finsternis zur Veränderung.
Licht und Finsternis vertreten die gleiche Botschaft, doch
sprechen sie verschiedene Sprachen.
Die Meerhexe Nogard
Kein Reichtum und keine Gunst können in der Lage sein, einst verloren gegangene Liebe zu ersetzen. Auroria, welche nicht weiß, dass ich ihre Mutter bin, leidet sicherlich unter dem Bann, den ich ihr auferlegt habe, doch soll jener „Fluch“ im Kleinen als auch im Großen verhindern, dass sich eine Katastrophe wie jene von vor neun Jahrhunderten wiederholt. Ich selbst war zu jener Zeit zugegen, verlor alles, das mir lieb und kostbar war, meinen Mann eben, Lamag, das Buch der Gottheiten – so wie er heute genannt wird. Der Zauber um Auroria und Hyrus ist so gewoben, dass es beinahe nicht möglich ist, ihn an seiner Erfüllung zu hindern. Auch wenn heutzutage die Geschicke der Götter und Göttinnen zum großen Teil nicht mehr mit dem meinen Schicksal verwoben sind, so war mir doch seit jeher nichts wichtiger, als meinen einst für immer von mir getrennten Lamag wieder in die Arme schließen zu können.
Zuerst waren wir gewöhnliche Sterbliche, die beide später Unsterbliche und unsterblich ineinander verliebt zur Strafe von dem Rat der „Großen Sieben“ voneinander getrennt wurden – ohne Aussicht auf Begnadigung. Und das unmerklich kleine Band, welches zwischen mir und den Göttern und Göttinnen noch herrscht, dafür zu benutzen, mich wieder mit ihm zu verbinden, ihn aus seiner Verbannung befreien zu können, ist mir recht und billig!
Ich sehe, dass jene Kraft, die einst als Mata bekannt für Tod und Zerstörung sorgte, die heutige Oraia, wieder nach Macht und Erfüllung strebt. Und obwohl dieses etwas ist, das mich weitaus weniger interessiert, weiß ich doch diesen Umstand zu nutzen, da die einzigartigen und bald fürchterlichen Umtriebe dieser Zeit doch bestens dafür geeignet sind, mich abermals mit meinem geliebten Lamag zu vereinen.
Alleine von dieser Motivation beseelt, meine ich aber eines zur Gewissheit zu verstehen: Ziehen die Kampfeswut und die von der Göttin der Schönheit beabsichtigte totale Vernichtung auf, haben wir alle verloren. Jedes einzelne Kettenglied in diesem verwobenen Geflechte der Geschicke und Schicksale ist wichtiger, als man glauben könnte. Solange meine Absicht dem Rat der Gottheiten nicht widerstrebt, wird sie, falls sie ihm zutragen könnte, bestimmt von ihm begünstigt und darauf baue ich.
Die Brüder werden hervorragende Werkzeuge zur Erfüllung dieser Absicht sein, und berücksichtige ich das, was die „Großen Sieben“ ihnen als Bürde auferlegt haben, werden sie mit Sicherheit nicht nur hervorragend zur Befreiung meines geliebten Lamags beitragen.
Die flüchtige Anna von Seron
Mit meinen achtzig Sonnen bin ich eine noch recht junge Elfenartige; dass ich eine Elfenartige bin und keine Elfe, bedeutet, dass ich das Kind eines elfischen Vaters und einer menschlichen Mutter bin. Ich bin zwar keine Unsterbliche, dennoch werde ich sehr alt, und mit meinem jetzigen Alter sehe ich aus wie eine Menschenfrau in ihrem besten Alter.
Vor genau fünfzehn Sonnen wurde mein Vater in Mino von höfischen Verrätern gemordet und man versuchte mir die Schuld hierfür in die Schuhe zu schieben – und ich, Anna von Seron, suche seitdem Rache an den Mördern zu finden. Possis von Seron zog mich allein groß, da meine Mutter