Wie großzügig. Ich presse die Lippen zusammen, um mir einen entsprechenden Kommentar zu verkneifen. Schon einmal habe ich Dragon unterschätzt. Und musste ihm dafür danken, dass er mich vor dem Thane gerettet hat. Dieses Eingeständnis ist mir wahrlich nicht leicht gefallen.
Wir werden also sechs Mann sein. Auf der Suche nach einer Vision. Oder dem Land unserer Zukunft.
»Dann ist es beschlossen. Wir brechen morgen früh auf.«
Kapitel 5
Elin
Wolken türmen sich auf, dicht und ungestüm. Sie ergreifen Besitz von den Gipfeln der Berge, verdunkeln die Welt, nehmen alles in sich auf. Es ist das, was sie nicht sieht, das ihr den Atem raubt. Sie zwingt sich zur Ruhe. Es muss mehr geben, irgendwo hinter dem Halblicht wird sie die Antwort finden.
Eng liegt Elin an den Körper ihres Gefährten geschmiegt. Die Nacht ist kühl. Ihr ist kalt. Das Feuer allein genügt kaum noch, um sie zu wärmen. Seit sie hinter die Schleier gesehen hat, seit sie vor dem Rat zugeben musste, wie wenig ihre Gabe von Nutzen ist, ist etwas in ihr erstarrt. Niemals zuvor hat sie sich derart hilflos gefühlt. Sie sollte dankbar für die Wärme sein, die Finos Körper ihr spendet.
Doch Fino wird gehen. Und es zerreißt sie innerlich zu wissen, dass sie sich trennen müssen. Sie weiß, dass seine Gedanken selbst hier auf ihrem Lager in die Ferne schweifen. Über den Berggrat hinweg, auf der Suche nach Antworten, die sie nicht geben kann. Liebevoll legt sie die Hand auf seine Brust. Die Unruhe hat sich dort eingenistet wie ein hartnäckiger Feind.
»Meinst du, es ist ein Fehler?«
»Was glaubst du?«, fragt er, statt zu antworten.
Ihre leisen Worte verlieren sich in der Dunkelheit. »Du hast die Argumente auf deiner Seite.«
»Aber was denkst du wirklich?«
Sie schließt die Augen und lauscht in die Stille, bevor sie sich zu einer Antwort durchringt. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.«
»Schon gut, Elin, es ist nicht deine Schuld.«
»Und ob es das ist!« Ihre Stimme zittert.
Es raschelt. Fino stemmt sich auf die Unterarme. Die Glut ist fast heruntergebrannt, und sie ist froh, dass er ihr Gesicht nicht genau sehen kann.
»Als ich versucht habe, mit deiner Großmutter zu sprechen, war ich mir sicher, dass sie mir etwas Bedeutsames sagen wollte. Dass ihre Visionen noch immer ein Teil von ihr sind.«
»Nur weil ihr Körper an Kraft verliert, heißt es nicht, dass ihr Geist nicht weiter auf Reisen geht.«
»Du hast sicher recht, Elin. Aber was sieht dein Geist?«
Sie wünschte, sie könnte ihm eine Antwort geben, die ihm Gewissheit gibt. Dabei spürt sie seine Zweifel, seine stummen Fragen.
Ernüchtert rollt sie sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Was geschieht mit ihr, wenn sie in die Dunkelheit des Halblichts abtaucht? Lange genug hat sie darüber nachgedacht. Immer und immer wieder. Stein für Stein umgedreht. Die Schwärze bleibt. Sie ist wie ein Makel. Schlimmer noch. Ein eitriger Pickel auf der Haut. Wenn ihre Mutter noch hier wäre, würde sie ihr ins Gesicht lachen. Sich bestätigt sehen, dass Asya die falsche Wahl für ihre Nachfolge getroffen hat. Und genau deswegen erstickt Elin jeden Zweifel in seinem Keim. Niemals wird sie ihrer Mutter diese Macht zusprechen, ihre Gabe in Frage zu stellen. Es wäre, als ob sie am Ende doch noch siegen könnte. Über ihren Tod hinaus.
Auf einmal spürt sie Finos Atem an ihrer Halsneige. Gewiss dreht er sich in Erwartung einer Antwort zu ihr. Ihr Herz klopft rasend schnell.
»Es ist, wie es ist. Das Halblicht gibt nur preis, was ich sehen soll.« Sie nimmt einen tiefen Atemzug. »Ohne meine Sehergabe hätte ich dich jedoch niemals gefunden.«
»Dafür werde ich bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Aber jetzt ...«, Fino hebt abrupt den Kopf. »Haderst du mit der Entscheidung im Rat, Elin?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
»Ich vertraue Asya«, antwortet sie mit fester Stimme, »und du solltest es auch tun.« Anschließend bettet sie Finos Kopf zwischen ihre Hände und kommt seinem Gesicht ganz nah. »Asya hat uns ihren Segen für den Aufbruch gegeben. Sie hat eine Zukunft für uns gesehen. Selbst wenn diese nicht hier sein wird, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte.«
Zärtlich fahren ihre Finger über die kurzen Bartstoppeln, seine weichen Lippen, und sie spürt augenblicklich, wie sich ihr Gefährte an sie drängt.
»Mein Krieger«, wispert sie. »Gib auf dich Acht. Ihr seid nur zu sechst, und es kann gefährlich werden.«
»Nicht weniger gefährlich als unser Weg hierher.« Ein tiefes Stöhnen unterstreicht Finos Worte, während sie seine Hand an ihrem Nacken spürt, weil er sie näher an sich heranzieht. Ihre Eule pulsiert sanft unter der Haut. Schauder ziehen über ihren Körper, an jeder einzelnen Stelle, die Fino berührt.
»Ich muss es einfach versuchen, Elin. Gemeinsam müssen wir nach vorne sehen. Die Nächte werden kälter, du spürst es doch auch? Von da, wo wir herkommen, kennen wir diese Kälte nicht. Nicht so, dass man morgens mit Steifheit in den Gliedern aufwacht. Das Essen reicht gerade zum satt werden. Was uns fehlt, sind Vorräte, frisches Fleisch ...«
Ihr Finger legt sich auf Finos Mund. »Ich weiß, was du meinst. Dich und die anderen gehen zu lassen, fällt mir trotzdem nicht leicht. Was, wenn ihr euch verirrt? Oder sich einer von euch verletzt?«
»Wir bleiben zusammen, das verspreche ich dir, Elin.«
Sie ringt nach den richtigen Worten. »Nur wenige Sonnenläufe.«
»Wenn es nur um mich ginge, würde ich dich keinen einzigen Atemzug lang allein lassen. Aber ...«, ihr Gefährte hält inne, »es geht um unsere Stämme. Wir dürfen nichts unversucht lassen.«
»Ich wünschte, ich könnte euch begleiten.«
»Du wirst hier gebraucht, und das weißt du auch. Du hast Mut für zehn, und die Leute vertrauen dir. Lass dich nur nicht von Telman ärgern.«
»Mit dem Dickschädel komme ich schon klar, mach dir keine Sorgen.«
Für den Moment schließt sie die Augen. Sie sieht ihrer beider Wege vor sich. Fino und sie sind Seelengefährten, vereint durch ein unlösbares Band, weil ihr Bran füreinander summt. Ihre Wege sind vorherbestimmt, von Geburt an. Nicht, dass es leicht ist, die Auserwählte zu sein. Wenn sie zurückblickt, dann erinnert sie sich vor allem an die lange Lehrzeit, die ihr wenig Freiraum gelassen und sie unfreiwillig zur Außenseiterin gemacht hatte.
»Hast du nie gezweifelt? Ich meine, auf deinem Weg zum Krieger?«
Schweigen streift über sie wie eine sanfte Windbö. Elin rechnet kaum noch mit einer Antwort.
»Nachdem meine Mutter ...«, beginnt Fino leise und räuspert sich. »Nach dem Tod meiner Mutter bin ich krank geworden. Sehr krank. Ich konnte kein Essen in mir behalten. Allerdings war ich beinahe froh darum. Weil ich dachte, dass ich dann zu schwach wäre, um ein Krieger sein zu müssen. Ich wollte keiner sein. Alles sträubte sich in mir, meinen Vater stolz zu machen. Er hat mir die Suppe regelrecht aufgezwungen, hat mich angestachelt, mich verhöhnt. Am Ende hat er es geschafft, dass ich wieder auf die Beine kam. Nur, um mich kurze Zeit später von sich zu stoßen.«
»Ich bin froh, dass meine Mutter nicht mehr unter uns ist«, presst Elin heraus. »Ist es schlimm, dass ich so denke?«
»Nein, sie war dir so wenig Mutter, wie mein Vater ein Vater war.«
Das Feuer brennt langsam herunter. Sie liegen auf einem abgewetzten Fell, über ihnen der endlose Himmel, ihre Körper eng aneinandergepresst,