Jessica Strang
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Kapitel 1
Fino
Der See liegt wie ein Juwel zu unseren Füßen. Nichts hat uns auf diesen Anblick vorbereitet. Urplötzlich ist die Senke hinter einem Hügel aufgetaucht. Und mitten darin das schillernde Wasser. Irritierend schön. Von einer Leuchtkraft, die das Licht des Tages noch verstärkt. Die Sonne steht flach am Himmel, wärmen kann sie längst nicht mehr. Im Hintergrund höre ich die anderen laut aufatmen, seufzen und befreit lachen. Voll bepackte Männer. Frauen am Rande der Erschöpfung, die die Kinder mit letzter Kraft hinter sich hergezogen haben. Alte mit schwachen Atemzügen. Ihr Erstaunen ist beinahe greifbar. Unser Durst kann endlich gestillt werden.
Ich verharre an der Seite meiner Gefährtin, nehme diesen einen Moment des ehrfürchtigen Dankes tief in mich auf. Die letzten Tage haben wir uns über die Berge geschleppt, wobei die Hoffnung auf eine neue Wasserquelle immer weiter schrumpfte. Eine Hoffnung, die selbst mich hatte verzweifeln lassen und in der Ferne reißende Flüsse halluzinieren ließ. Am Ende waren es jedes Mal Rinnsale. Vertrocknete Flussläufe, denen die Hitze vergangener Tage das Kostbarste geraubt hat.
»Alles wird gut«, flüstert mir Elin ins Ohr.
Ich wende den Kopf und sehe in ihre schmalen Augen, deren goldbrauner Glanz irgendwann verloren gegangen ist, und trotz allem von Zuversicht sprechen. Die Entbehrungen des langen Marsches sind auch in Elins Gesicht deutlich zu lesen. Ihre ausgeprägten Wangenknochen treten noch stärker hervor, die weißblonden Haare hängen wild und struppig herunter, die Lippen sind von der allgegenwärtigen Trockenheit genau wie meine eigenen eingerissen. Dennoch war sie nie schöner. Die Seherin der Fens lässt mein Herz jeden Tag aufs Neue erzittern. Wie ein erster zarter Lichtschweif am Horizont. Wie eine leuchtende Fackel in der Finsternis.
Am Ende habe ich dich gefunden, Feuerfrau. Auch wenn mein Dorf zu Asche zerfallen musste, um dir zu begegnen.
»Hmm ...«, brumme ich gedankenversunken vor mich hin.
Die Erinnerung an mein Dorf schmeckt bitter. Nach Verlust und Tod. Ich habe sie mir auf den Rücken geladen, in jener Nacht, in der das sinnlose Morden begann und der feindliche Stamm unser Dorf zerstörte. Meine größte Befürchtung bestätigte sich, als uns die Thuns selbst in jenem abgelegenen Tal, in dem die Fens lebten, aufspürten. Aus Furcht vor Vernichtung und neuem Blutvergießen haben wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht. Fort von den vertrauten Tälern der Moragen. Fort von dem, was wir – die Fens und Laxis - einst Heimat nannten. Weil Kaino, der Kriegsgott, auf seinen Schwingen des Verderbens in unsere Täler vorgedrungen war und uns in einen Krieg gezogen hat, den wir nicht hatten abwenden können.
Die Zeit des Großen Friedens endete von einem Tag auf den anderen. Und fast mein ganzer Stamm wurde ausgelöscht.
»Glaub mir, Fino, dies ist ein guter Ort.«
»Ich hoffe es so sehr«, erwidere ich, weiß aber, dass meinen Worten die nötige Überzeugungskraft fehlt. Sind wir wahrhaftig angekommen?
Meine Gedanken fliehen erneut zurück. Anfangs war ich guten Mutes und trieb alle voran, Männer, Frauen wie Kinder. Sie trotzten der Mühsal, einen Bergkamm nach dem anderen zu überwinden, in die Täler hinabzusteigen, nicht wissend, was uns dort erwarten würde. Sie weinten laut, sie wimmerten, stumm sprachen die Augen von Trauer und Kummer. Ihre Tränen hinterließen keine Spuren. Irgendwann wurde das Weitergehen zum täglichen Überlebenskampf, sogar für mich. Auf dem unebenen Gelände spürte ich den dumpfen, bisweilen stechenden Schmerz in meiner Hüfte. Ich ertrug ihn still, solange ich dadurch mein frisch verheiltes Bein entlasten konnte. Trotzdem hat sich die Verzweiflung auch in meinen Kopf eingenistet. Eine stumpfe Axt war mehr wert als meine hohlen Worte, mit denen ich den Menschen Tag für Tag neue Hoffnung zu geben versuchte.
Wenn sich nur die Enge in meinem Hals verflüchtigte.
Dieser Ort kann unsere Rettung sein.
Die Verantwortung der Entscheidungen lastet dennoch auf mir. Für das Jetzt und das Morgen. Für jeden Einzelnen. Wie einst für meine Krieger.
Wirst du meine Krieger künftig anführen, Fino von den Laxis, so wie ich es dich gelehrt habe?
Ja, ehrwürdiger Kanoa, ich werde deine Axt und dein Speer sein. Möge ich ein ehrwürdiger Nachfolger sein.
Ausgerechnet jetzt höre ich die Worte meines Lehrers und Ältesten der Laxis. Wie sehr er mir fehlt. Meine Antwort liegt noch nicht lange zurück und dennoch fühlt es sich an, als sei es in einem anderen Leben gewesen.
»Komm, Fino, es gibt viel zu tun.« Elin streicht über den Widder an meinem Oberarm, als wüsste sie von meinem inneren Kampf.
Ich schlucke. Mein Krafttier, das kurz vor meiner Wahl zum Kriegeranführer dort eingeritzt worden ist, bezeugt, wofür ich geboren wurde. So wie Elins Eule für ihre Weisheit und Sehergabe steht, und auf Kanoas Schulter der Bär als Zeichen des Beschützers und weisen Lehrers zu finden war, steht mein Widder für Willenskraft und Erfolg. Was lässt mich ausgerechnet jetzt zögern?
»Bin ich ein guter Anführer, Elin?«
Ich spüre an meiner Seite, wie ein Ruck durch Elins Körper geht.
»Was soll das für eine Frage sein, Fino?« Die Strahlen der sinkenden Sonne verhängen sich in Elins Hinterkopf, umgeben sie mit einem Licht, das mich schaudern lässt. »Du bist der beste Anführer, den es jenseits und diesseits der Moragen gibt.«
»Was ist mit Dragon und Telman? Sie haben meinen Platz an deiner Seite von Anfang an in Frage gestellt. In Telmans Blicken steckt so viel Wut. Ich kann verstehen, wenn er mich ablehnt, immerhin habe ich allen viel abverlangt und ...«
»Vergiss die beiden. Telman ist ungestüm wie ein junger Hirsch, der das Rudel am liebsten selbst zusammenhalten würde. Er kennt seinen Platz. Und Dragon ...«, Elin zieht eine Augenbraue hoch, »du kannst ihm vertrauen, auch wenn es für dich nicht danach aussieht.«
Sobald Elins Freund aus Kindertagen zwischen uns zur Sprache kommt, beschleunigt sich mein Puls, ohne dass ich es beeinflussen kann. Dragons und mein Start war nicht der Beste. Selbst wenn er seit unserem Aufbruch alles daran gesetzt hat uns zu unterstützen, ist die Tatsache, dass er sich mir von Anfang an überlegen gefühlt hat, nicht von der Hand zu weisen.
»Was ist mit denen, die wir zurücklassen mussten?« Nachdenklich knete ich meinen verspannten Nacken. »Immer, wenn ich gedacht habe, eine richtige Entscheidung zu treffen, habe ich neues Verderben über die Menschen gebracht, die mir wichtig sind.«
»Ein Kriegsgott braucht keinen Grund, um den Tod zu fordern.«
Wie stolz ich auf sie bin. In der Stimme meiner Gefährtin höre ich ihre ureigene Stärke heraus. Ohne Elin, ohne ihre Weitsicht und Besonnenheit, wären wir nie so weit gekommen. In den Nächten, in denen ich schweißgebadet aufwache, sind es ihre trostvollen Worte, die mich einhüllen wie ein Kind. Ich war noch nie derart mitgenommen. Mein Vater hat mich gelehrt, welche Folgen Schwäche nach sich zieht. Stockhiebe, Nächte allein und zitternd