Wie müde sie aussieht. Habe ich ihr angesichts ihres Zustandes zu viel zugemutet? Noch sieht man erst eine kleine Wölbung, doch die Art und Weise, wie sie ihre Hände in abwesenden Momenten auf den Bauch legt, zeigt, wie sehr sie sich mit dem Gedanken vertraut macht, ein Kind auszutragen. Was, wenn sie sich überfordert hat, als sie vorschlug, sich um Elins Großmutter zu kümmern?
»Jetzt kannst du dich ausruhen und anderen die Pflege überlassen.«
Myra schüttelt energisch den Kopf. »Das meinst du nicht im Ernst, Fino! Ich lasse Asya nicht im Stich!«
»Schon gut.« Ich hebe die Hände.
Wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass mich Myra schwer verletzt aus den brennenden Trümmern einer unserer Hütten gezogen hat. Während die Thuns in unser Dorf eingefallen waren und es mordend in Brand gesteckt hatten, war ich Pollis, dem Sohn ihres Anführers, in einem fast aussichtslosen Kampf gegenübergetreten. Am Ende hatte ich ihn besiegt. Doch zu welchem Preis? Myra hatte mich gestützt, als wir die Toten unseres Dorfes beklagten, hatte meine Entscheidung zu fliehen nicht in Frage gestellt, und dabei doch ihre ganze Familie verloren. Wie tief muss sich der Verlust in ihr Herz eingebrannt haben. Ihr Herz, das jetzt für zwei schlägt. Verzeih mir Inde, mein Freund. Ich weiß, dass deine Schwester bereits viel zu viel Leid für ihr junges Leben gesehen hat.
»Du bist eine großartige Heilerin geworden, Myra. Inde wäre stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte. Deine Familie, sie alle ...«, ich gerate ins Stottern.
Schon auf unserer Flucht aus dem brennenden Dorf war ich daran gescheitert, die richtigen Worte zu finden. Solche, die den Verlust weniger schmerzhaft machen könnten.
Es ist schön, wenn du von ihm sprichst. So bleibt er in den Erinnerungen lebendig.
Myra hatte bei diesen Worten geweint und mich gleichzeitig gebeten, sie nicht zu schonen.
»Er fehlt mir. Seine Launen. Die Neckereien. Inde hätte sich jeden Tag beschwert, dass es nichts als jämmerliche Gräser und verschrumpelte Beeren zu essen gibt.«
Um Myras Mundwinkel zuckt es. »Mich würde er bestimmt damit aufziehen, dass ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand möchte. Du kennst seine freche Zunge.«
»Und wie«, ich lache befreit auf, »sie hat ihm so manchen Ärger eingehandelt.«
»Ob Inde sich gut mit Gundo verstanden hätte, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, was meinst du?«
»Sicher! Und deine Mutter erst! Sie wäre so froh über dein Glück, Myra.«
Gundo ist ein guter Mann. Und dazu ein Laxis. Ein Leben lang wird er für jeden sichtbar die Brandnarben des Überfalls auf unser Dorf auf seinem Körper tragen. Was ihn anfangs daran zweifeln ließ, ob er Myra seine Gefühle gestehen sollte. Doch er fand in Zeiten der Trauer die richtigen tröstenden Worte und gab Myra den Halt, den sie brauchte, um so etwas wie eine Zukunft zu sehen. Ich bin dankbar, dass sich die beiden gefunden haben. So wird der Stamm der Laxis nicht untergehen.
»Myra, geh mit Gundo zusammen an den See. Elin und ich kümmern uns um Asya.« Ich drücke Myra die Hand und weise mit dem Kopf in die Richtung. Dorthin, wo sich diejenigen, die den See erreicht haben, gegenseitig in die Arme fallen, ans Wasser stürzen und ihren Durst stillen. Ich hoffe für Myra, dass sich Freude in ihrem Herzen breit machen kann, wenn sie diesen besonderen Moment mit Gundo teilt. Sie hat es mehr als verdient, glücklich zu sein.
»Vielleicht finde ich dort unten auf dem feuchten Boden neue Kräuter.« Myra spricht leise, mehr zu sich selbst. Sie dreht ihr Gesicht in den Wind und schließt für einen Moment die Augen.
»Du hast alles versucht, Myra. Asya hat keinen Weg gewusst, wie wir ihr helfen können. Sie ist eine Seherin, vergiss das nicht.«
Ich höre ein Aufschluchzen. »Es ist, als ob Asya für all diejenigen steht, für die ich nicht da sein konnte. Ich möchte sie nicht gehen lassen.«
»Das verstehe ich.«
»Wenn ich wenigstens wüsste, wie meine Mutter oder Inde sterben mussten ...«
»Quäl dich nicht, Myra.« Ich fasse die junge Frau an den Schultern und rede eindringlich auf sie ein. »Ich weiß, wovon du sprichst. Der Tod ist Teil des Lebens, schon immer. Sobald wir uns an einem sicheren Ort niederlassen, werden wir unserer Toten gedenken. Und einen Ehrenstein in der Mitte des Dorfes aufstellen.«
Myra wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass es hier sein wird?«
Ein Frösteln legt sich auf meine Arme. So sehr ich es mir wünsche, mit den anderen in Jubel auszubrechen, es gelingt mir immer noch nicht. Obgleich dieser Ort so viel mehr verspricht, als wir alle erhofft haben. Irgendetwas tief in mir sträubt sich.
Mein Schweigen deutet Myra auf ihre Weise. »Was sagt Elin dazu?«
»Sie weiß es nicht.«
»Dann sprich mit ihr!«
»Es ist nur ein Gefühl, Myra.« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. «Als läge ein schwerer Stein auf meiner Brust. Dabei bin nicht ich derjenige mit der Sehergabe.«
»Und genau darum musst du mit Elin sprechen. Vielleicht kann sie dir mehr Antworten geben.«
»Meinst du, dass Asya diesen Ort in ihrer Vision gesehen hat?«
»Möglich ist es«, sagt Myra ausweichend. Sie zieht die Brauen zusammen, während sie in die Senke blickt. »Der Berg ist wie ein Fremder, das Tal eine Vertraute. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber in einem Tal leben.«
»So geht es mir auch, Myra. Wir haben schon immer in der Ebene am Fluss gelebt, dort war unser Zuhause. Ich weiß nicht ...«, ich stocke, »ob wir für ein Leben am Berg geschaffen sind.«
»Dann lass es uns ausprobieren, Fino.« Myra wendet sich um. »Ich gehe jetzt mit Gundo nach unten. Alles andere wird sich fügen.«
Wie weise sie ist, die kleine Schwester meines besten Freundes. Für einen Moment bleibe ich am Grat stehen, allein mit meinen Gedanken. Warum habe ich mich Myra anvertraut? Hätte ich meine Bedenken nicht eher mit Elin teilen sollen? Innerlich winde ich mich gleich einer Schlange um eine ehrliche Antwort. Myra ist eine Laxis. Jeder Stein in unserem Dorf war ihr genauso vertraut wie mir. Myra hat verloren, was auch ich verloren habe. Die Heimat. Die neu zu finden wir seit heute hoffen können.
»Asya, kannst du mich hören? Ich werde dich jetzt den Berg hinunter tragen.« Ich knie neben Elin und suche den Blick der alten Seherin.
Elin hält die knochige Hand der alten Frau in ihrer und schüttelt traurig den Kopf. »Ich versuche schon die ganze Zeit, zu ihr durchzudringen. Es ist, als hätte sich ihr Geist zurückgezogen.«
»Wir haben Wasser gefunden. Bald wird es dir besser gehen.« Vorsichtig lege ich einen Arm unter den ausgemergelten Körper und hebe ihn hoch. Ich spüre jeden einzelnen Knochen. Meine Schulter beschwert sich beim Anheben, ich lasse mir allerdings nichts anmerken.
»Großmutter, wir sind da. Wir haben deinen Ort gefunden.«
Das Lächeln, das sich über Elins Gesicht zieht, stimmt mich nachdenklich. Ich hätte es ihr doch sagen sollen.
Während ich so achtsam wie möglich den Berghang hinunter gehe, nagen Elins Worte an mir. Ist sie sich sicher und bin nur ich derjenige, der sich rastlos fühlt? Ich denke an die Nacht des Sonnenwendfeuers zurück.
Ich, Fino von den Laxis, werde der Mann an deiner Seite sein, mit dem du dein Volk in eine neue Heimat führen wirst.
Diese Worte haben sich in meine Seele gebrannt. Ich sehe den Moment noch genau vor mir. Als ich das Feuer gewaltsam zum Erlöschen gebracht und mich Elins Mutter einen Verräter genannt hatte. Ohne auch nur einen Augenblick des Zögerns hatte mich Elin, die Frau aus meinen Träumen, vor den Augen ihres Stammes zu ihrem Gefährten erwählt. Mich, der die letzten meines