Denk daran, dass Besonnenheit der bessere Ratgeber ist.
Kanoas Worte helfen mir, mich zu beruhigen. Mein alter Lehrer hat mir beigebracht, wie ich mich von Hass, Wut oder gar Rachegefühlen frei machen kann. Denn davon hatte ich genug in mir, als mich mein Vater für drei Wildschweine bei ihm zurückließ.
Ich sehe Dragon und den Zwillingen zu, wie sie halb rutschend, halb kletternd vorankommen. Mit einem fragenden Blick wende ich mich zu Aso. Sein knappes Nicken genügt als Signal, dass wir uns ebenfalls in Bewegung setzen. Richtung Tal.
»Na dann, wollen wir unser Glück versuchen.«
Eine Weile hört man nichts als Schnaufen, einen kurzen Japser, wenn sich losgetretene Steine ihren Weg bergab suchen, und vielfaches Fluchen. Ich benötige meine gesamte Konzentration, um den spitzen Felsen auszuweichen und nicht zu schnell ins Rutschen zu geraten. Dabei spendet mir der Gedanke Kraft, dass meine Vorfahren den mühsamen Weg über die Bergketten der Moragen genau wie wir zu Fuß auf sich genommen haben. Genau wie wir haben sie nach fruchtbaren Tälern gesucht. Schon damals muss viel Mut dazu gehört haben, in unbekannte Bergregionen vorzustoßen. Mit leuchtenden Augen und dem Geschmack von Kräuterwasser im Mund haben die Ältesten vor den Feuern im Steinernen Kreis davon erzählt. Jetzt sind es genau diese Geschichten, die mich vorwärts treiben. Die mir Hoffnung geben, mich noch einmal auf die Suche zu machen. Vielleicht wird sie am Ende belohnt, egal, wie laut ein Dragon oder ein Telman über mich fluchen.
»Warum bist du überhaupt mitgekommen?«
Diese Frage lauert seit dem Moment, als wir beschlossen hatten, aufzubrechen, auf meiner Zunge. Zusammen mit Dragon kümmere ich mich darum, aus dem trockenen Gras und Gestrüpp ein Feuer in Gang zu bringen. Die Stelle, die wir für die Nacht ausgewählt haben, ist nicht perfekt, aber besser als nichts. Ein kümmerlicher Grasfleck im Schatten eines Felsens, gerade groß genug, dass wir alle Platz finden. Irgendwann, als die Helligkeit des Tages bereits am Schwinden war, haben wir die Kluft hinter uns gelassen. Sie verschwand unter großem Felsgestein, als hätte es sie nie gegeben.
Dragon hebt den Kopf. Sein Blick ist irgendetwas zwischen überheblich und finster. »Hast du überhaupt gemerkt, wie es Elin geht? Ich meine, hast du sie richtig angesehen?«
»Was soll das?«
»Ich mein ja nur. Dann wüsstest du nämlich, dass sie vollkommen am Ende ist. Sogar ihre Gabe lässt nach, und das hat sie noch nie in all den Jahren, seit ich sie kenne.«
Dragons Ton hat etwas Scharfes an sich, darum muss ich achtsam mit dem sein, was ich sage.
»Wir sind alle erschöpft, das ist nichts Neues, Dragon, und genau darum will ich verhindern, dass ...«
»Was du willst, interessiert im Grunde niemanden!« Dragon beugt sich so nah zu mir, dass ich die hervortretenden Adern an seinen Schläfen sehen kann. »Wir Fens folgen Elin, nur, damit das klar ist. Oder was glaubst du, warum ich hier bin?«
Das Zischeln einer Schlange unmittelbar vor meinen Füßen könnte mich nicht mehr in Erregung versetzen. Wutentbrannt werfe ich ein Büschel Gras in das schwelende Feuer, das nicht richtig in Gang kommen will. Ich bin nicht bei der Sache. Wie auch?
»Ich bin Elins Gefährte«, sage ich entschieden, doch es klingt mehr nach einer Drohung.
»Ein Fremder bist du, ein elender Flüchtling. Elin hat etwas Besseres verdient.«
Meine Faust, in der ich eben noch das Gras gehalten habe, schwingt ungebremst in Dragons Gesicht. Er schreit laut auf und hält die Hand an seine Lippe. Blut läuft an seinem Kinn herunter.
»Du meinst doch nicht etwa dich?«, verhöhne ich Dragon, weil es eine Wohltat ist, mich endlich nicht mehr zurückhalten zu müssen. Dragons Nähe ist wie eine Spitze, die ständig in eine eiternde Wunde sticht.
»Ich kenne sie besser als du!«, speit mir Dragon entgegen und ist schon im nächsten Moment aufgesprungen.
Ich warte nur darauf, dass er zurückschlägt. Angespannt beobachte ich jede seiner Bewegungen, während ich hochschnelle. Dragons Körperhaltung spricht davon, wie sehr er mich hassen muss.
»Wage es ja nicht noch einmal ...«
Genau in dem Augenblick höre ich Stimmen. Dragon muss sie auch bemerkt haben, denn er senkt sofort seine eigene.
»Das ist der einzige Grund, warum ich mitgekommen bin. Um Elin vor deinen schwachsinnigen Ideen zu schützen. Niemals werden wir einen besseren Ort finden, nicht in einer Handvoll Nächte, egal, was du dir erhoffst.«
»Du willst mich also im Auge behalten, ist es das? Besser ich bin mit dir unterwegs, als dass ich mein Lager mit Elin teile, oder?« Die Erkenntnis erheitert mich beinahe.
Selbstverständlich hatte mir Elin anvertraut, dass ihre langjährige Freundschaft mit Dragon einen gewaltigen Riss bekommen hatte, als dessen Bran für sie zu summen begann und sie ihn abgewiesen hatte. Ich dachte, ihn mittlerweile besser einschätzen zu können. Ich habe mich getäuscht. Dragon ist keiner, der so leicht aufgibt.
»Gibt es etwas, das wir wissen sollten?« Aso hat uns erreicht und sieht fragend von Dragon zu mir.
Ich schüttle unmerklich den Kopf, während sich Dragon bückt und mit zusammengekniffenem Mund am Feuer zu schaffen macht.
»Euer Feuer ist übrigens erbärmlich.«
»Dann kümmere dich nächstes Mal selbst darum«, brummt Dragon, ohne aufzusehen.
Fast tut er mir leid. Ich muss an einen dieser Vögel denken, die ihr Gefieder zwar aufplustern, um mehr Eindruck zu machen, aber niemanden damit imponieren. Mir nicht und schon gar nicht Elin. Wenn wir zurück sind, werde ich nicht umhin kommen, ihre angebliche Freundschaft erneut anzusprechen.
»Es wird bald dunkel«, sagt Aso, der ein Tuch voller kümmerlich aussehender dunkelblauer Beeren auf dem Boden vor uns ausbreitet. »Die anderen sind auch gleich zurück.«
Tatsächlich höre ich in dem Moment die laut tönende Stimme des Schmieds, der die Zwillinge mit neuen Geschichten zu versorgen scheint. Sie nähern sich unserer Gruppe ohne Eile.
»Alles ist ruhig. Kein Anzeichen von irgendwas, geschweige denn Menschen.« Zufrieden setzt sich der Schmied neben mich und hüllt sich in sein Fell. »Wird nur reichlich schnell kühl, was meint ihr? Nicht ein Stern am Himmel zu sehen. Könnte eine ungemütliche Nacht werden.«
Im Stillen pflichte ich ihm bei. Die Wolken hängen noch immer viel zu tief. Es riecht nach mehr Regen.
»Dann lasst uns essen und schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind.« Ich nehme mir eine Handvoll Beeren und lege kleine Zweige in das Feuer nach. Es macht wirklich nicht viel her. Trotzdem hoffe ich, dass es genügt, um wilde Tiere fernzuhalten. Nachdenklich kaue ich auf den winzigen Früchten. Sie schmecken leicht säuerlich. Ihnen mangelt es an der saftigen Frische, die ich mir erhofft habe.
Meine Krieger fehlen mir. Allen voran mein Freund Inde. Unsere Vertrautheit. Wie oft haben wir in den Bergen unser Lager aufgeschlagen, wie oft zusammen in die Nacht gestarrt. Meine Männer und ich haben uns wortlos verstanden. Sie haben mich als ihren Anführer respektiert und trotzdem ihre Scherze mit mir getrieben. Ich seufze leise. Wie sehr mir doch die Gemeinschaft fehlt!
Es dauert lange, bis ich in dieser Nacht Schlaf finde.
Kapitel 6
Elin
Das Licht der Tage nimmt schnell ab. Sie weiß nicht, ob das Halblicht mit ihr spielt. Tag und Nacht verschwimmen. Die Wolken werden dichter, legen sich wie Nebel über Fels und Gras. Nicht ein Blick ist ihr gewährt auf das, was dahinter liegt. Die Schleier wehen achtlos im Wind. Kälte zieht auf.
Am Ende jeden Tages ist Elin erschöpft und aufgedreht zugleich. Sie sehnt