»Wir wollen auch zum See.«
»Meine Kinder haben Durst.«
»Da unten ist nichts, das sieht selbst ein Blinder!«
Die Ungeduld der Wartenden in meinem Rücken ist beinahe greifbar. Wie ein Geschwür unter der Haut, das immer größer wird und aufzuplatzen droht. Die Leute sind bereit, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren.
»Wir warten ab.« Ich bemühe mich, ruhig und bestimmend zu klingen. »Wir müssen sicher sein, dass uns keine Gefahr droht.«
»Was soll da unten schon gefährlich sein?«
Abrupt drehe ich mich um. Telman. Sein Übereifer hat mir gerade noch gefehlt.
»Wir haben es bis hierher geschafft, weil niemand einfach losgestürmt ist«, sage ich mit deutlichem Ernst in der Stimme.
»Bis hierher, du sagst es«, schnaubt Telman. Sein finsterer Blick könnte eine Gewitterwolke heraufbeschwören.
Die Hand auf meiner Schulter bremst meine Erwiderung aus.
»Du wirst unsere Entscheidung nicht anzweifeln, Telman. Sonst bist du der Erste, der ins Wasser steigt«, sagt Elin mit einer noch nie dagewesenen Entschlossenheit.
Ein Raunen geht durch die Menge. Ich weiß von Elin, dass die wenigsten Fens schwimmen können und tiefe Gewässer meiden. Niemals würde einer von ihnen freiwillig in den See gehen. Trotzdem steigt mein Unmut über Telman. Kraftvoll presse ich die Kiefer aufeinander.
Ein paar Männer schlagen Telman gutgemeint auf den Rücken. Er quittiert es mit einem Tritt auf den Boden, wobei Gras und Erde nur so wegspritzen. Der dunkelhäutige Hüne kann gut Reden schwingen. Das hat er unterwegs immer wieder bewiesen. Wenn er der Meinung war, dass wir an einer Wegscheide eine andere Richtung einschlagen sollten. Oder er nach einer Pause verlangte. Er hat viele Freunde unter den Fens. Solche, die die Sprache der Fäuste besser verstehen. Was wir am wenigsten brauchen, ist ein Aufrührer. Doch er drängt sich trotzdem immer weiter an den Bergkamm, und viele andere mit ihm.
Plötzlich ertönt ein Schrei, laut und ungestüm.
»Was ist ...«
»Seht nur, der Schmied!« Elins Arm schnellt nach vorn. Ihre Finger weisen in Richtung See.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Keinesfalls jedoch, dass nur einen Augenblick später ein Ruck durch die Menge geht und die Ersten losstürmen. Allen voran Telman. Und es folgen immer mehr. Gleich einer losgetretenen Gerölllawine rennen sie den Berg hinunter. Jubelnd, schreiend und lachend. Sie stören sich nicht daran zu stolpern, lassen ihre schweren Lasten einfach liegen. All das beobachte ich, noch bevor ich endlich selbst in die Senke blicke. Dorthin, wo der Schmied vereint mit Aso und Dragon steht und seine Faust in die Höhe streckt.
Ein Aufatmen. Ich lockere meine Kiefermuskeln. Bis in den Nacken spüre ich die Anspannung.
»Und? Sollen wir auch gehen?«
Elins Frage kommt einem Weckruf gleich. Ich führe meine Faust zur Brust. Zum Zeichen, dass es wahr geworden ist. Dass wir einen Ort gefunden haben, der mehr sein kann als eine Zuflucht. Ich kann die Erregung im Spiel ihrer Mimik sehen. Trotzdem entscheide ich anders.
»Wir müssen zuerst nach deiner Großmutter sehen.«
»Ich wollte nicht ...«, Elin senkt die Lider und spricht nicht weiter. Für einen kurzen Moment herrscht stummes Einvernehmen zwischen uns. Sie lehnt den Kopf an meine Stirn. Ich spüre die Eule in ihrem Nacken. Ihr Krafttier ist stark. Elins Gabe reicht nicht ganz an die von Asya heran, doch sie hat uns in manch bangen Momenten zur Vernunft gebracht. Jetzt ist es an mir, Besonnenheit zu zeigen.
»Du hast recht«, durchbricht meine Gefährtin ihr Schweigen. »Lassen wir die anderen voraus gehen. Wir haben sie lange genug angeführt.«
Kapitel 2
Fino
Bei Asyas Anblick wird mein Herz schwer. Die alte Frau, die nicht nur die Wunden des erbitterten Kampfes gegen meinen ärgsten Feind, sondern auch die meiner Seele mit ihrem großen Wissen geheilt hat, lehnt keuchend an einem Felsen. Myra sitzt daneben und spricht leise zu ihr, während sie ihr sanft über die weißen Haare streicht. Nicht weit entfernt entdecke ich Gundo, Myras Gefährten. Er ist umringt von ein paar Männern, die gestikulierend auf ihn einzureden scheinen. Sie alle haben sich in den letzten Tagen abgemüht, Asya bis an diesen Ort zu tragen, nachdem deren Kräfte immer mehr am Schwinden waren. Der Blick der Alten ist glasig. In letzter Zeit waren ihre Worte oft verworren, als müsse sie sich selbst durch das Dickicht ihrer Gedanken wühlen.
»Wie geht es ihr?«, fragt Elin leise.
Ich zucke zusammen, als Myra zu uns hoch sieht. In ihren großen rehbraunen Augen liegt unendlich viel Traurigkeit. Die Schwester meines besten Freundes Inde ist jung, die Geschehnisse haben sie allerdings schneller reifen lassen als ein Samenkorn die Erde durchstößt. Nicht mehr lange, dann wird sie selbst Mutter.
»Wir können nicht viel für sie tun, Fino«, sagt Myra und macht dabei Platz für Elin. »Das Atmen fällt Asya immer schwerer.«
»Bei den meisten, die in der Höhe mit Luftproblemen zu kämpfen hatten, ist es mit der Zeit besser geworden.« Ich kratze mich verzweifelt am Hinterkopf. »Warum nicht bei ihr?«
»Sie ist alt.« Myra steht auf. Sie schlingt die Arme um sich und sieht in die Ferne. »Asya sagt, dass ihr Herz nicht mehr hinterher kommt. Es verliert seine Kraft.«
»Nicht jetzt«, fluche ich so laut, dass mir Elin einen mahnenden Blick zuwirft.
Wie viele Sonnenläufe ist es her, dass wir uns auf den Weg gemacht haben? Dreimal hat sich der Mond bereits gefüllt, jetzt ist nur eine schmale Sichel zu sehen. Tag um Tag haben wir zu Irsa, der Göttin, gebetet haben, uns den Ort aus Asyas Vision finden zu lassen. Längst habe ich aufgehört sie zu zählen. In meinen dunkelsten Momenten habe ich bereut, keinen anderen, keinen besseren Ausweg gewusst zu haben. War Flucht wirklich die beste Entscheidung? Eine Flucht über die unwegsamen Bergriesen der Moragen, nicht wissend, was dahinter auf uns warten würde? Nur um zu erkennen, dass sich eine Bergkette nach der anderen aneinanderreihte. So hoch, dass wir die Waldgrenze viele Male hinter uns lassen mussten. So gefährlich, dass ich nie aufhören durfte, um das Leben der mir anvertrauten Menschen zu bangen.
Sieben Opfer hat der Berg zu sich gerufen. Schwäche und Alter haben zugelassen, dass wir drei der ältesten Fens betrauern mussten. Drei weitere, deren Schritte zu unachtsam gesetzt worden waren. Mitanzusehen, wie Onaki, Enya und die kleine Isa die Felsen hinabstürzten und uns jede Möglichkeit der Hilfe genommen war, ließ uns der Verzweiflung näher rücken. Auch Elins Mutter hat es nicht geschafft. Meine Gefährtin verliert nie ein Wort darüber. Die Unversöhnlichkeit der beiden hielt bis zuletzt an. Hinzu kam der offen ausgetragene Hass auf mich. Am Ende war Sare ein Fehltritt zum Verhängnis geworden. Damit hat sie die mühsam unterdrückte Wut auf ihre Tochter und auf ihr eigenes ungerecht empfundenes Schicksal mit in die Tiefe genommen.
Oh Irsa, du Göttliche, sag, sind wir am richtigen Ort angekommen?
Mit vielem haben Elin und ich gerechnet, als wir uns mit dem Rat der Seherinnen und Asya berieten und unsere Leute darum baten, noch einen weiteren, vielleicht einen letzten Berg zu erklimmen. Mit schroffen Felshängen, die uns den Weg versperrten und uns zu einem kräftezehrenden Umweg zwangen. Weil sich das Tal, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, als zu schmal und unwirtlich erwiesen hatte. Niemand von uns hatte in seinen kühnsten Träumen daran gedacht, Wasser im Überfluss zu finden.
»Es ist nicht gerecht.« Eine einzelne Träne rollt über Myras Wange. »Asya hat es so weit geschafft. Ich wünschte, ich hätte noch etwas von den Kräutern aus unserer Höhle.«
»Du kannst nichts dafür, Myra.«
Behutsam lege ich einen Arm um ihre Schulter und lenke sie ein paar Schritte weg. Weg von dem Krankenlager und den anderen Seherinnen,